Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Bilder auszusuchen und den anderen davon zu erzählen. Wer sich am besten ausdrückte, sollte ein Geschenk bekommen. So kann ich wenigstens auch noch ein bisschen shoppen, das wird mich entspannen. Der Besuch im Museum war Philippes Idee gewesen.
»Warum gehst du nicht mit ihnen ins Musée d’Orsay?«, hatte er gestern Abend beim Zubettgehen gefragt. »Ich war mit Alexandre dort, und es hat ihm gut gefallen.« Etwas später, kurz bevor er das Licht löschte, hatte er hinzugefügt: »Und wie läuft’s mit deinem Buch? Kommst du voran?«
»Mit Riesenschritten.«
»Darf ich es lesen?«
»Sobald ich fertig bin, versprochen.«
»Sehr schön! Dann sieh zu, dass du schnell fertig wirst, damit ich diesen Sommer etwas zu lesen habe.«
Sie hatte einen Hauch Ironie aus seiner Stimme herauszuhören geglaubt.
Aber nun schlenderten sie erst einmal durch die Säle des Musée d’Orsay. Alexandre betrachtete die Gemälde, ging näher heran und trat wieder zurück, um sich einen Eindruck zu verschaffen, während Max lustlos herumschlurfte und die Spitzen seiner Sportschuhe über das Parkett zog. Zoé schwankte, ob sie dem Beispiel ihres Freundes oder dem ihres Cousins folgen sollte.
»Seit Max bei euch wohnt, redest du gar nicht mehr mit mir«, beschwerte sich Alexandre, als sie sich neben ihn stellte, während er gerade ein Gemälde von Manet betrachtete.
»Das stimmt nicht … Ich hab dich noch genauso gern wie vorher.«
»Nein. Du hast dich verändert … Ich mag nicht, wenn du deine Augen grün anmalst … Das sieht billig aus. Und es macht dich älter. Das ist wirklich unfassbar!«
»Welche Bilder nimmst du?«
»Ich weiß noch nicht…«
»Ich würde gern gewinnen. Ich weiß schon, was ich mir als Geschenk von deiner Mutter wünsche!«
»Was denn?«
»Alles, was ich brauche, um mich hübsch zu machen. So wie Hortense.«
»Aber du bist doch hübsch!«
»Nein, nicht so wie Hortense …«
»Du hast überhaupt keine eigene Persönlichkeit! Du willst immer nur so sein wie Hortense.«
»Und du hast keine eigene Persönlichkeit, du machst alles wie dein Vater! Glaubst du, das hätte ich nicht gemerkt?«
Beleidigt trennten sie sich, und Zoé ging zu Max hinüber, der wie gebannt vor einem weiblichen Akt von Renoir stand.
»Wow,’ne nackte Frau! Wusste gar nicht, dass so was im Museum hängt.«
Zoé kicherte und knuffte ihn mit dem Ellbogen in die Seite.
»Sag das ja nicht meiner Tante, die fällt glatt in Ohnmacht.«
»Mir doch egal. Ich hab meine drei Bilder schon!«
»Wo hast du sie denn aufgeschrieben?«
»Da …«
Er zeigte ihr seine Handfläche, auf die er drei Bilder von Renoir notiert hatte.
»Du kannst nicht drei Bilder vom gleichen Maler nehmen, das ist geschummelt.«
»Ich mag aber die Frauen von dem Kerl. Die haben’s bequem, und sie sehen aus, als wären sie nett und hätten Spaß am Leben.«
Beim Mittagessen hatte Iris große Mühe, Max zum Reden zu bringen.
»Du verfügst über einen unglaublich begrenzten Wortschatz, mein Lieber«, konnte sie sich nicht verkneifen. »Natürlich ist das nicht deine Schuld, es ist eine Frage der Erziehung!«
»Kann sein … dafür weiß ich Sachen, von denen Sie keine Ahnung haben! Sachen, für die man keinen Wortschatz braucht. Was bringt einem so’n Wortschatz überhaupt?«
»Er hilft dir zu denken. Gefühle, Empfindungen mit Worten zu beschreiben … Es bringt Ordnung in deinen Kopf, wenn du jedes Ding mit dem richtigen Wort bezeichnen kannst. Und indem du in deinem Kopf Ordnung schaffst, entwickelst du eine Persönlichkeit, du lernst zu denken, du wirst jemand.«
»Aber ich hab keine Angst! Die Leute ham Respekt vor mir! Mir trampelt keiner auf den Füßen rum!«
»Das wollte ich damit auch nicht sagen …«, setzte Iris an, doch dann beschloss sie, das Thema auf sich beruhen zu lassen.
Zwischen ihr und diesem Jungen gähnte eine tiefe Kluft, und sie war sich nicht sicher, ob sie sie wirklich überbrücken wollte. Damit sich keiner zurückgesetzt fühlte, entschied sie, dass sich alle drei Kinder ein Geschenk aussuchen durften, und sie machten sich auf den Weg zu einem Schaufensterbummel ins Marais. Gott sei Dank ist diese Plackerei bald vorbei, bald ist Jo mit dem Buch fertig, dann bringe ich Serrurier das Manuskript, und wir fahren alle zusammen nach Deauville. Dort warten wir, bis er es gelesen hat und uns sagt, was er davon hält.
In Deauville habe ich Carmen oder Babette und brauche nicht den ganzen Tag die Launen dieser Gören zu
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