Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Hortense!«
»Mein Gott, bist du altmodisch, Maman. Da ist bei deiner Erziehung aber Einiges schiefgegangen. Jetzt fahr endlich weiter! Es fehlte gerade noch, dass wir zu spät kommen. Sie hasst das …«
Dann drehte sie sich zu Zoé um, die auf der Rückbank saß und mit einer Faust im Mund leise vor sich hin weinte.
»Und du hör auf zu heulen! Du gehst mir auf die Nerven. Verdammt, mit euch beiden bin ich echt gestraft! Kein Wunder, dass Papa die Nase voll hatte.«
Sie klappte die Sonnenblende herunter, prüfte ein letztes Mal ihr Aussehen im Spiegel und schimpfte laut vor sich hin: »Na super! Jetzt ist auch noch mein Lipgloss weg! Und ich hab den Stift nicht dabei. Wenn einer bei Iris rumliegt, nehm ich ihn einfach. Ich schwöre, ich klau ihn, das wird sie nicht mal merken, die kauft die Dinger doch dutzendweise. Ich bin echt in die falsche Familie geboren worden. So ein Mist!«
Joséphine musterte ihre ältere Tochter, als sei sie eine flüchtige Verbrecherin, die nur zufällig neben ihr auf dem Beifahrersitz gelandet war: Sie machte ihr Angst. Sie wollte ihr widersprechen, aber sie fand nicht die richtigen Worte. Alles ging so schnell. Sie glitt unaufhaltsam eine Rutschbahn hinunter, deren Ende sie nicht sehen konnte. Erschöpft und mit ihren Argumenten am Ende wandte sie schließlich den Blick ab und starrte hinaus auf die Straße, die blühenden Bäume der Allee, die mächtigen Stämme, die langen Zweige voller frischer, zartgrüner Blätter und praller Knospen, die sich zu ihr herunterneigten und ein blühendes Gewölbe bildeten, durch welches das sommerliche Abendlicht fiel und dabei jeden Zweig, jedes Blatt, jede wattige Knospe weiß aufleuchten ließ. Das sanfte Schwanken der Zweige tröstete sie, und während Zoé mit den Händen über den Ohren, mit zusammengekniffenen Augen und krausgezogener Nase leise weiterweinte, drehte Joséphine den Zündschlüssel, fuhr los und betete im
Stillen, dass sie sich nicht geirrt hatte und die Straße, in die sie eingebogen war, tatsächlich zur Porte de la Muette führte. Danach muss ich nur noch einen Parkplatz finden … Und das ist dann das nächste Problem, dachte sie mit einem Seufzen.
Das Essen verlief ohne Zwischenfall.
Carmen sorgte für einen reibungslosen Ablauf, und das junge Mädchen, das sie für den Abend als Aushilfe eingestellt hatte, erwies sich als sehr geschickt.
Iris, die eine lange weiße Bluse und eine lavendelblaue Leinenhose trug, saß die meiste Zeit über still da und griff nur ein, wenn die Unterhaltung ins Stocken geriet, was recht häufig der Fall war, denn niemand schien besonders gesprächig zu sein. Die sonst so liebenswürdige Gastgeberin wirkte angespannt und geistesabwesend. Sie hatte ihr langes schwarzes Haar hochgenommen und so festgesteckt, dass es in dichten, schimmernden Wellen auf ihre Schultern fiel.
Was für wunderschönes Haar!, dachte Carmen, wenn sie die kräftigen Strähnen durch ihre Finger gleiten fühlte. Manchmal erlaubte ihr Iris, das Haar zu bürsten, und sie liebte es, es unter ihren Bürstenstrichen knistern zu hören. Iris hatte den ganzen Nachmittag allein in ihrem Arbeitszimmer verbracht und nicht ein einziges Mal telefoniert. Carmen hatte die Kontrollleuchten des Telefons, dessen Basisstation in der Küche stand, nicht aus den Augen gelassen. Keines der Lämpchen war angegangen. Was trieb sie da bloß allein in ihrem Arbeitszimmer? So etwas kam in letzter Zeit immer häufiger vor. Wenn sie früher mit Päckchen beladen nach Hause gekommen war, hatte sie gerufen: »Carmencita, ein heißes Bad! Schnell! Schnell! Wir gehen heute Abend aus!« Sie hatte die Päckchen fallen lassen, war ins Zimmer ihres Sohnes gerannt, um ihm einen Kuss zu geben, und hatte sich mit lauter Stimme erkundigt: »Wie war dein Tag, Alexandre? Erzähl, mein Schatz! Hast du gute Noten bekommen?«, während Carmen im Badezimmer Wasser in die große, mit blauem und grünem Mosaik geflieste Wanne laufen ließ und Thymian-, Salbei- und Rosmarinöl daruntermischte. Sie hielt einen Ellbogen ins Wasser, um die Temperatur zu prüfen, fügte ein wenig duftendes Badesalz von Guerlain hinzu, und wenn schließlich alles perfekt war, zündete sie kleine
Kerzen an und rief Iris, damit sie in das duftende, warme Wasser eintauchte. Manchmal durfte sie Iris bei ihrem Bad zur Hand gehen, ihre Fußsohlen mit dem Hornhauthobel glätten, ihr die Zehen mit einem Wildrosenöl massieren. Kenntnisreich und mit Genuss umschlossen Carmens kräftige
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