Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Fragen ihrer Mutter und Schwester bewahren würde, aber Marcel machte keine Anstalten, ihren Dialog fortzuführen. So ist es immer bei ihm, dachte Joséphine, wenn er zehn Minuten mit mir geredet hat, hat er das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, und wendet sich etwas anderem zu. Ich interessiere ihn nicht. Diese Familienabende müssen eine Qual für ihn sein. Genau wie für Antoine. Männer sind davon ausgeschlossen. Sie dürfen als Statisten mitwirken, mehr aber auch nicht. Man spürt, dass alle Macht in den Händen der Frauen liegt. Na ja, nicht aller Frauen! Ich bin auch nur eine unbeteiligte Zuschauerin. Sie fühlte sich isoliert und warf einen raschen Blick auf Iris, die mit ihrer Mutter redete. Sie hatte ihre langen Ohrringe abgenommen und wippte mit den Füßen, deren Zehennägel in der gleichen Farbe lackiert waren wie ihre Fingernägel. Welche Anmut! Es ist kaum vorstellbar, dass dieses strahlende, exquisite, vornehme Geschöpf und ich dem gleichen Geschlecht angehören, dachte sie. Eigentlich müsste man bei der Einteilung der Menschheit in zwei Geschlechter zusätzliche Unterkategorien erfinden. Weibliches Geschlecht, Kategorie A, B, C, D … Dann würde Iris in die Kategorie A gehören und ich in die Kategorie D. Joséphine fühlte sich von dieser sinnlichen, in sich ruhenden Weiblichkeit, die jede Geste ihrer Schwester umgab, ausgeschlossen. Jedes Mal, wenn sie versucht hatte, sie nachzuahmen, hatten ihre Bemühungen in einer schmerzhaften Demütigung geendet. Einmal hatte sie mandelgrüne Krokoledersandalen gekauft, die sie an Iris’ Füßen gesehen hatte, und war damit im Wohnungsflur auf und ab gelaufen, damit Antoine sie endlich bemerkte. »Was gehst du denn so komisch?«, war seine Reaktion gewesen. »Mit den Dingern an den Füßen siehst du aus wie ein Transvestit!« Die hinreißenden Pantoletten waren plötzlich nur noch »Dinger« und sie selbst eine Transe …
Sie stand auf und ging ans Fenster, um die größtmögliche Distanz zwischen sich und ihre Mutter und ihre Schwester zu bringen. Sie betrachtete die Bäume auf der Place de la Muette, die sich in der noch feuchten Abendluft wiegten. Die untergehende Sonne färbte die massigen Quadersteingebäude rosig, die schmiedeeisernen Tore reckten sich wie Lettern des Wohlstands, aus den zartgrünen, pudrig gelben, wolkig weißen Gärten stieg schimmernder Dunst auf. Alles strahlte Reichtum und Schönheit aus, einen Reichtum, der, von allem Materiellen befreit, Flüchtigkeit, Wonne, Verheißung wird. Chef ist reich, aber schwerfällig. Iris ist reich und leichtfüßig. Sie strahlt jene unvergleichliche Entspanntheit aus, die einem das Geld verleiht. Wie sehr sich Madame auch bemüht, das Niveau ihrer älteren Tochter zu erreichen, sie wird immer eine Neureiche bleiben. Ihr Haarknoten ist zu straff, ihr Lippenstift zu dick aufgetragen, ihre Handtasche glänzt zu sehr, und warum stellt sie sie nicht auf den Boden? Aus dem gleichen Grund wie alle, die früher einmal arm waren: Sie hat Angst, jemand könnte sie ihr stehlen. Sie behält die Tasche beim Essen auf dem Schoß. Chef konnte sie zwar täuschen, aber einen anderen hätte sie niemals hinters Licht führen können. Jemanden, den sie lieber getäuscht hätte! Sie musste sich mit Chef begnügen, Chef mit seinen geschmacklosen Kleidern, Chef, der in der Nase bohrt und die Beine spreizt, um seinen klebenden Hosenboden vom Hintern zu lösen. Das weiß sie ganz genau, und das nimmt sie ihm übel. Er erinnert sie daran, dass sie ebenfalls unvollkommen ist und über gewisse Grenzen nie hinauskommen wird. Wohingegen Iris eine Unbekümmertheit ausstrahlt, die auf Rätselhaftigkeit, auf Mysterium beruht, eine selbstverständliche Unbefangenheit, die sie über alle anderen stellt und sie einzigartig und kostbar macht. Iris hat es geschafft, in eine andere Welt zu wechseln.
Und das war auch der Grund, weshalb Antoine sich in ihrer Gegenwart so tollpatschig anstellte und Schweißausbrüche bekam. Diese unsichtbare Grenze zwischen Philippe und ihm, zwischen Iris und ihm. Ein kaum wahrnehmbarer Unterschied, der nichts mit Geschlecht, Geburt oder Erziehung zu tun hat, ein Unterschied, der angeborene Eleganz von der des Emporkömmlings trennt und der Antoine immer wie einen Trottel wirken ließ.
Genau hier, auf diesem Balkon, hatte sich Antoine eines Maiabends
zum ersten Mal in einen Springbrunnen verwandelt … Sie hatten gemeinsam auf die Bäume in der Avenue Raphaël hinuntergesehen; er musste sich so
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