Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Zoé auf den Schoß, drückte sie an sich und machte sich bereit zuzuhören. Hortense öffnete den Umschlag mit einem Messer, zog sechs dünne Blätter Papier heraus, faltete sie auf, legte sie auf den Küchentisch und strich sie liebevoll mit dem Handrücken glatt. Dann begann sie zu lesen:
Meine süßen Lieblinge,
wie Ihr anhand der Briefmarke auf dem Umschlag sicher gleich erkannt habt, bin ich in Kenia. Seit einem Monat. Ich wollte Euch überraschen, deshalb habe ich Euch vor meiner Abreise nichts davon gesagt. Aber ich hoffe doch, dass Ihr mich besuchen kommt, sobald ich mich hier fertig eingerichtet habe. Vielleicht könnt Ihr während der Schulferien herkommen. Ich werde mit Eurer Mutter darüber reden.
Wenn Ihr in einem Lexikon nachschlagt, werdet Ihr feststellen, dass Kenia ein Land an der Ostküste Afrikas ist. Es grenzt an Äthiopien, Somalia, Uganda, Ruanda und Tansania und liegt gegenüber der Inselgruppe der Seychellen am Indischen Ozean … Na, kommt Euch das bekannt vor? Nicht? Dann müsst Ihr Euch unbedingt noch einmal Eure Erdkundebücher vornehmen. Der Küstenstreifen zwischen Malindi und Mombasa, wo ich lebe, ist die bekannteste Region Kenias. Bis 1890 gehörte
er zum Reich des Sultans von Sansibar. Die Araber, Portugiesen und Engländer haben sich Kenia gegenseitig streitig gemacht, und erst 1963 wurde das Land unabhängig. Aber genug Geschichte für heute! Ich bin mir sicher, dass Ihr Euch nur eine einzige Frage stellt: Was macht Papa in Kenia? Ehe ich Euch darauf antworte, eine Empfehlung … Sitzt Ihr, meine beiden Schätzchen? Sitzt Ihr ganz fest?
Hortense lächelte nachsichtig und seufzte. »Das ist mal wieder typisch Papa!« Jo konnte es nicht fassen: Er war in Kenia! Allein oder mit Mylène? Das rote Dreieck über dem Toaster starrte sie höhnisch an. Es schien zu blinken.
… Ich betreibe eine Krokodilzucht …
Die Mädchen rissen vor Verblüffung den Mund auf. Krokodile!
Hortense war so verdutzt, dass sie beim Weiterlesen schnaufte.
… für eine chinesische Firma! Ihr wisst doch sicher, dass sich China zu einer industriellen Großmacht entwickelt, die über vielfältige natürliche und wirtschaftliche Ressourcen verfügt. In China wird von Computern bis hin zu Automotoren alles hergestellt, was man sich nur denken kann, und – Ihr werdet es kaum glauben! – jetzt haben es sich die Chinesen sogar in den Kopf gesetzt, Krokodile als Rohstoff zu nutzen! Ein gewisser Mister Wei, mein Chef, hat in Kilifi eine Modellfarm eingerichtet und hofft, dass diese bald große Mengen von Krokodilfleisch, Krokodileiern, Krokodillederhandtaschen, Krokodillederschuhen, Krokodillederportemonnaies und noch vieles mehr produzieren wird. Ihr wärt überrascht, wenn ich Euch von allen Plänen meiner Investoren erzählen und Euch ihre ausgeklügelten Installationen schildern würde! Nun, sie haben also beschlossen, die Tiere in großer Zahl in einem Naturpark »anzubauen«. Mister Lee, mein chinesischer Assistent, hat mir erzählt, dass sie mehrere riesige Boeing 747 mit Zehntausenden thailändischer Krokodile beladen haben. Als Folge der asiatischen Wirtschaftskrise waren die thailändischen Züchter gezwungen, sie zu verkaufen: Der Preis für Krokodile war um fünfundsiebzig Prozent gefallen! Die Chinesen haben sie quasi umsonst bekommen. Wie im Schlussverkauf !
»Papa ist so witzig!«, sagte Zoé, am Daumen lutschend. »Aber ich mag nicht, dass er mit Krokodilen arbeitet. Krokodile sind doof!«
Sie haben mehrere Flussarme durch Stahlnetze abgetrennt, die Krokodile hineingesetzt und sich dann auf die Suche nach einem »deputy general manager« gemacht … Das ist mein Titel, meine beiden Hübschen. Ich bin der deputy general manager des Croco Park!
»Manager«, sagte Hortense nach kurzem Nachdenken. »Das habe ich auch am Anfang des Schuljahres auf den Fragebogen geschrieben, als nach dem Beruf meines Vaters gefragt wurde.«
… Und ich herrsche über siebzigtausend Krokodile! Könnt Ihr Euch das vorstellen?
»Siebzigtausend!«, sagte Zoé. »Da muss er aufpassen, dass er nicht ins Wasser fällt, wenn er auf seiner Farm spazieren geht! Ich finde das gar nicht gut.«
Einer meiner früheren Kunden aus meiner Zeit bei Gunman & Co. hat mir diese Stelle besorgt. Ich hatte ihn im Juni zufällig eines Abends in Paris getroffen, als ich gerade in der Panoramabar des Hotel Concorde Lafayette an der Porte Maillot saß. Wisst Ihr noch? Ich habe Euch ein paar Mal dorthin mitgenommen. Ich hatte ihm
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