Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
seine Nase war nach einem Bruch schief zusammengewachsen, und sein Gesicht leuchtete ziegelrot. Was für ein Kerl!, hatte Marcel gedacht, während er Renés Argumenten lauschte, der eine Stelle suchte. »Ich will ja nich angeben, aber ich kann alles. Und ich trödel nich rum. Ich hab keinen großen Namen und bin auch kein studierter Ingenieur, aber Sie können mich garantiert brauchen. Geben Sie mir ’ne Chance, und Sie werden mich noch anflehen zu bleiben.«
René hatte kurz zuvor geheiratet. Seine Frau Ginette, eine kleine, quirlige Blondine, bekam Arbeit im Lager, wo sie ihrem Mann unterstellt war. Sie fuhr die Gabelstapler, klapperte auf der Schreibmaschine, zählte gewissenhaft die Container und überprüfte ihren Inhalt. Sie wäre gern Sängerin geworden, aber das Leben hatte anders entschieden. Als sie René kennenlernte, sang sie im Backgroundchor von Patricia Carli und hatte sich entscheiden müssen: René oder das Mikrofon. Sie hatte René gewählt, aber hin und wieder überkam es sie immer noch, und sie schmetterte unter den großen Glasfenstern
des Lagers aus voller Brust: » Arrête, arrête! Ne me touche pas! Je t’en supplie, aie pitié de moi! Je ne peux plus, plus suporrrrter avec une autre te parrrrtager … D’ailleurs, demain tu te marrries, elle a de l’archent, elle est cholie! Elle a tou-ou-tes les qualités, mon seul défaut, c’est de t’aimer!!! « Sie machte Stimmübungen und stellte sich einen Saal voller jubelnder Zuschauer zu ihren Füßen vor. Sie war auch als Backgroundsängerin für Rocky Volcano, Dick Rivers und Sylvie Vartan aufgetreten. Jeden Samstagabend veranstalteten René und Ginette zu Hause Karaoke. Ginette war in den Sechzigern stecken geblieben, trug Ballerinas, Caprihosen mit Vichy-Karos und eine Frisur wie Sylvie zur Zeit des kurzen blauen Kleids von Réal und der Margerite hinterm Ohr. Sie besaß eine vollständige Sammlung von Salut les copains und Mademoiselle Âge tendre und blätterte in den Zeitschriften, wenn die Sehnsucht nach der guten alten Zeit sie überkam.
Marcel hatte René und Ginette ein paar Räume über den ehemaligen Stallungen vermietet. Sie hatten sie zu einer Wohnung umgebaut und dort ihre drei Kinder, Eddy, Johnny und Sylvie, großgezogen.
Als Marcel René einstellte, hatte er die genaue Definition seiner Aufgaben auf später verschoben. »Ich fange gerade erst an, und Sie machen mit!« Seitdem waren die beiden Männer miteinander verflochten wie die knorrigen Äste der Glyzinie.
Zwar sahen sie sich nur selten außerhalb des Büros, aber es verging kein Tag, ohne dass Marcel bei René vorbeischaute und ihm die Schirmmütze vom Kopf zog, woraufhin René, in Latzhose, eine Kippe zwischen den Lippen, brummte: »Alles klar, Alter?«
René führte eine genaue Bestandsliste aller Waren, notierte die Ein- und Ausgänge, die Angebote und die Artikel, die nicht liefen und die sie loswerden mussten: »Das Zeug da machst du zu ’nem Angebot des Monats. Verscherbel es an die ganzen Trottel, Snobs und faulen Säcke, die sich in deinen Läden rumtreiben, aber hier will ich’s nich mehr sehen! Und wenn du die Fließbänder in Tsing-Tsing oder Petropawlowsk in Gang gesetzt hast, dann halt sie gefälligst wieder an. Oder du verdienst dein Geld bald mit Stepptanzen in der Métro. Keine Ahnung, was dich geritten hat, als du dreißig Paletten davon bestellt hast, aber da hatte dir wohl gerade einer ins Hirn geschissen!«
Marcel blinzelte, hörte zu und befolgte fast immer Renés Rat.
Zusätzlich zur Verwaltung des Lagers in der Avenue Niel war René auch für die Verteilung der Waren auf die verschiedenen Läden in Paris und in der Provinz zuständig, er führte die Aufsicht über die Warenbestände und bestellte die Artikel nach, die ausgegangen waren oder demnächst ausgehen würden. Jeden Abend ging Marcel, ehe er nach Hause fuhr, nach unten ins Lager, um mit René ein Glas Rotwein zu trinken. René holte Wurst, Camembert, ein Baguette und gesalzene Butter heraus, und die beiden Männer plauderten, während sie durch die großen Fenster der Halle die Glyzinie betrachteten. Sie hatten sie klein und bescheiden kennengelernt, aber jetzt, nach fast dreißig Jahren, wand sie sich vor Behagen, schwang sich in kühnen Bögen empor und wucherte fröhlich unter ihren begeisterten Blicken.
Doch seit einem Monat kam Marcel nicht mehr hinunter zu René.
Wenn er kam, dann nur, weil es ein Problem gab, weil man aus einem der Läden angerufen hatte, um sich zu
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