Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
ihrer Handtasche, riss ihr Portemonnaie heraus, öffnete es hastig und zog die Belege heraus. Zählte langsam die Beträge zusammen und nannte sie ihrem Bankberater.
»Das wird knapp, Madame Cortès … Vor allem, wenn er die Rate vom 15. Januar auch nicht bezahlt … Ich möchte Ihnen so kurz vor Weihnachten keine unnötige Angst machen, aber es wird sehr knapp.«
Joséphine wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ihr Blick fiel auf den Küchentisch, wo ihre Schreibmaschine stand, eine alte IBM mit Kugelkopf, die Chef ihr überlassen hatte.
»Ich werde die Raten schon aufbringen, Monsieur Faugeron. Geben Sie mir nur ein bisschen Zeit. Mir wurde heute Morgen ein weiterer gut bezahlter Auftrag versprochen. Es kann sich nur noch um Tage handeln …«
Sie redete einfach drauflos, verzettelte sich.
»Es hat noch keine Eile, Madame Cortès. Wir können Anfang Januar einen neuen Termin vereinbaren, wenn Sie möchten, vielleicht wissen Sie dann ja schon mehr…«
»Danke, Monsieur Faugeron, ich danke Ihnen.«
»Also dann, Madame Cortès … und nehmen Sie es nicht zu schwer, Sie schaffen das schon! Versuchen Sie, über die Feiertage nicht daran zu denken. Haben Sie irgendwelche Pläne?«
»Ich fahre zu meiner Schwester nach Megève«, antwortete Joséphine benommen wie ein angezählter Boxer.
»Es tut gut, nicht allein zu sein, Familie zu haben … Dann wünsche ich Ihnen frohe Weihnachten, Madame Cortès.«
Joséphine legte auf und wankte hinaus auf den Balkon. Sie hatte sich angewöhnt, in schwierigen Situationen dort Zuflucht zu suchen. Vom Balkon aus schaute sie zu den Sternen auf. Ein Funkeln oder eine Sternschnuppe interpretierte sie als Zeichen dafür, dass sie erhört wurde und der Himmel über sie wachte. An diesem Abend kniete sie auf dem Betonboden nieder, faltete die Hände, blickte zum Himmel auf und betete: »Liebe Sterne, bitte macht, dass ich nicht mehr allein bin, macht, dass ich nicht mehr arm bin, macht, dass ich nicht länger von allen Seiten bedrängt werde. Ich bin müde, so müde … Liebe Sterne, allein bringt man doch nichts Ordentliches zustande, und ich bin so allein. Schenkt mir Frieden und innere Stärke und schenkt mir denjenigen, auf den ich heimlich warte. Es ist mir egal, ob er groß oder klein ist, reich oder arm, schön oder hässlich. Schenkt mir einen Mann, der mich liebt und den ich liebe. Wenn er traurig ist, werde ich ihn zum Lachen bringen, wenn er zweifelt, werde ich ihn aufrichten, wenn er kämpft, werde ich an seiner Seite sein. Ich verlange nichts Unmögliches von euch, ich bitte euch nur um einen Mann, denn, wisst ihr, Sterne, die Liebe ist doch der größte Reichtum eines Menschen … Die Liebe, die man schenkt und die einem selbst geschenkt wird. Und ohne diesen Reichtum kann ich nicht leben …«
Sie neigte den Kopf und versank in ein endloses Gebet.
Marcel Grobzs Büroräume lagen in der Avenue Niel 75, nicht weit von der Place de l’Étoile einerseits und dem Boulevard Périphérique andererseits. »Hier das Ambiente, da die Kohle«, erklärte er lachend, wenn er Besucher durch sein Reich führte, beziehungsweise »hier kommt das Zeug zu einem Cent rein und geht zu zehn Euro wieder raus«, wenn er mit René allein war.
Vor Jahren hatte er ein dreistöckiges Gebäude in einem gepflasterten Innenhof gekauft, an dessen Mauer sich eine Glyzinie emporrankte. Sie war ihm gleich aufgefallen. Der junge Marcel Grobz suchte einen luftig und bürgerlich anmutenden Sitz für seine Firma. »Mein Gott!«, hatte er beim ersten Blick auf dieses Ensemble gerufen, das man ihm günstig zum Kauf anbot. »Das ist ja perfekt!« Und er strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Hier sieht’s ja aus wie in einem Karmeliterkloster! Hier werden die Leute respektvoll mit mir reden, und sie werden abwarten, wenn ich mal mit einer Rate in Verzug komme! Dieser Ort hat was Biederes und Beschauliches, hier weiß man gleich, das ist eine ehrliche, erfolgreiche Firma.«
Er hatte alles gekauft, das Gebäude und das Lager, den Hof und die Glyzinie und ein paar alte Stallungen mit zerbrochenen Fensterscheiben, die er zu weiteren Geschäftsräumen hatte umbauen lassen.
Hier in der Avenue Niel 75 hatte der steile Aufstieg seiner Firma begonnen.
Und hier war auch eines schönen Tages im Oktober 1970 René Lemarié hereinspaziert, ein Bursche, zehn Jahre jünger als er, dessen schmale Jungmädchentaille sich zu wahren Karyatidenschultern weitete. Er hatte einen kahl geschorenen Kopf,
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