Die gelehrige Schuelerin
konnte verstehen, warum sie nicht angerufen hatte, nicht einmal vorbeigekommen war. Ich hatte ihr solchen Kummer bereitet, dass sie mich am liebsten wohl nie im Leben wieder gesehen hätte. Ich konnte den Kontakt zu ihr nicht von mir aus aufnehmen. Ich wollte sie nicht mehr verletzen. Und ich wollte die schwache Hoffnung in mir nicht verlieren, dass wir doch noch mal zusammenkommen könnten.
Es wurde so schlimm mit mir, dass ich mich kaum noch an unsere glücklichen Zeiten erinnern konnte. Mir fielen nur unsere sich immer mehr vergrößernde Fremdheit, das grobe Schweigen und unsere gemeinen Worte ein.
Als am Donnerstag der Unterricht vorbei war und ich in der Klasse stand, um die Tafel noch abzuwischen, kam Annie wieder herein. »Wir haben doch nicht gemeint, was wir gesagt haben. Ich habe es nicht so gemeint, was ich gesagt habe.«
Ich ließ ihre Worte auf mich wirken. Dann sah ich sie an – sie war ruhig, stark, wunderschön. Ich wollte auf sie zueilen, sie in die Arme nehmen, aber ich stand wie angegossen.
»Oh, Arnie. Wir können uns doch gar nicht so wehtun. Wir hatten doch gesagt, dass wir das nie tun wollten. Wir können nicht alles in dieser Scheiße enden lassen. Wir müssen auch weiterhin gut zueinander sein. Sieh mal, ich muss dir sagen, dass ich …«
»Annie«, sagte ich plötzlich. Nur um überhaupt etwas zu sagen (hatte ich Schiss?), um sie zu unterbrechen, um mich selbst zum Reden zu bringen. »Lass uns dieses Wochenende zusammen wegfahren.« Diese Idee kam mir, während ich sprach. Ich wollte fort, weg von allem, wieder mit ihr allein sein. »Lass uns nach Seattle fahren. Ich bin noch nie dort gewesen. Lass uns sehen, was uns noch geblieben ist. Wir verdienen eine weitere Chance.«
Sie dachte nach. Ich hatte den Eindruck, dass es noch etwas anderes gäbe, das sie mir außer ja oder nein mitteilen wollte. »In Ordnung«, antwortete sie dann ruhig.
Ich lief zu ihr und umarmte sie fest. Wir drückten uns eng aneinander. Ich konnte die wahre, tiefe Übermittlung ihrer Gefühle spüren und mir wurde ganz warm. Sie liebte mich immer noch.
Meine Liebe schäumte über und schien die Körpergrenzen aufzuheben.
Malcolm Hargrove betrat das Klassenzimmer.
Ich bekam einen kleinen Herzanfall – obwohl er erst kurz nachdem wir uns voneinander gelöst hatten, gekommen war.
»Mr. Lester«, sagte er förmlich. »Ich freue mich, dass ich Sie noch erreichen konnte, bevor Sie nach Hause gegangen sind. Junge Dame, würden Sie bitte einen Augenblick draußen warten?« Annie sah nervös zu mir herüber. Ich fragte mich, ob er nicht doch noch unsere Umarmung durch das Fenster in der Tür gesehen hatte. Sie ging hinaus. »Ja. Nun. Was wollte ich Ihnen sagen?« Ohne seinen Schreibtisch vor sich sah Hargrove wesentlich kleiner aus. Mir fiel sofort auf, dass er eine blaue und eine braune Socke trug. War mein Verhaftungsbefehl schon unterzeichnet? Hatte er die Aufgabe, mich mit seinem Gefasel festzuhalten, bis die Polizei eintraf? »O ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Der Winterkarneval. Mr. Lester, ich muss Ihnen sagen, ich war über Ihre Abwesenheit am Samstag zutiefst enttäuscht. Und noch mehr hat es mich getroffen, dass mir nicht ein Wort der Entschuldigung Ihrerseits zu Ohren gekommen ist. Ich hätte von Ihnen erwartet, da Sie bis heute wahrlich genug Zeit hatten, in mein Büro zu kommen, dass Sie mir ihr Nichterscheinen persönlich erklären würden.«
»O ja. Es tut mir außerordentlich Leid.« Schnelle Entschuldigungen wie eine tote Tante, Leukämie, Allergie gegen Clownsmakeup, Autoexplosionen usw. schossen mir durch den Kopf. Aber ich sagte: »Um ehrlich zu sein, ich hatte es total vergessen. Ich hatte das Datum des Winterkarnevals vergessen. Ich bin nicht in Ihr Büro gekommen, um mich zu entschuldigen, weil es mir zu peinlich war.«
»Sehr ungewöhnlich«, antwortete er darauf. »Aber Ihre Ehrlichkeit imponiert mir. Haben Sie in Zukunft keine Angst mehr, mit mir über alles und jedes zu sprechen. Und da Sie Ihre Arbeit ansonsten so vorzüglich machen, werde ich es diesmal so durchgehen lassen. Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung, Wussten Sie übrigens, dass Ihre Juniorklassen bei den PSAT-Tests am besten abgeschnitten haben?«
»Wirklich?«
»Ja. Und ich wollte Sie auch noch davon in Kenntnis setzen, dass beim letzten Elternsprechtag einige Mütter von Ihren Schülerinnen zu mir gekommen sind und mir berichtet haben, dass die Mädchen Sie wie eine frische Brise im Schulalltag empfänden und dass
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