Die gelehrige Schuelerin
Ich hätte sagen wollen: »Annie, wir haben immer versucht, ehrlich zueinander zu sein. Warum du unsere Beziehung jetzt so haben willst, wie du sie dir vorstellst, würdest du mich dann lieber wieder so wie am Anfang wollen, als ich noch die Macht in Händen hatte?« Aber ich sagte gar nichts. Ich hatte das Gefühl, wenn ich ihr zu diesem Zeitpunkt Fragen aus meiner Unsicherheit heraus stellte, würde es so klingen, als bettelte ich um Verständnis, womit ich noch mehr Schwäche preisgeben würde. Und das half uns jetzt auch nicht weiter.
»In meinem Koffer steckt etwas, das dich interessieren könnte«, sagte ich stattdessen.
Sie langte auf den Hintersitz und lächelte erwartungsvoll. Dachte sie vielleicht an ein Geschenk? Sie riss den Reißverschluss meiner Reisetasche auf und zog ein Schuljahrbuch hervor, Jahrgang 1972.
Hastig blätterte sie die ersten Seiten um. Als sie auf farbige Großaufnahmen stieß, die ein paar von den Schülern auf dem Schulrasen rumlungernd zeigten, schrie sie auf: »Ihr wart echte Freaks! Alle! Sieh dir mal den mit dem langen Haar an. Es geht bis zu seinem Hintern. Und mit dem fransigen Lederanzug sieht er aus wie Buffalo Bull. Das ist toll, Arnie. Jede Seite sieht aus wie das Cover einer alten Rockplatte. Und ihr seht alle schon so alt aus.« Sie starrte, jedes Mal von neuem erstaunt, auf die folgenden Fotos. Ihre Überraschung machte mir Spaß.
»Es ist seltsam«, sagte ich, »aber ich kann mich daran erinnern, dass ich damals auf der Highschool immer gedacht habe, wie komisch die Leute in den älteren Jahrbüchern aussehen würden. Diese Jacketts, Schlipse und das kurz geschnittene Haar. Nun bist du von unseren Haaren und unserer Kleidung schockiert. Und dabei könnten einige Fotos aus den letzten Dillistown-Jahrbüchern für Fotos aus den frühen Sechzigern, wenn nicht sogar Fünfzigern weggehen. Ich glaube, meine Klasse war der Anfang vom Ende einer neuen Rasse … Wart mal, bis du mein Konterfei siehst.«
Annie arbeitete sich vorsichtig zu den Schülerporträts vor bis sie bei L angekommen war. Dann ließ sie den Mund offen. Ein paar Jahre vor meinem Abschluss hatten die Schüler einen Protest veranstaltet und erreicht, dass man von da an sein eigenes Wunschbild im Jahrbuch abdrucken lassen durfte, anstatt für den Schulfotografen posieren zu müssen. Ich kannte meine Vorlage noch gut. Meine Arme waren wie mexikanische Patronengürtel über der Brust gekreuzt. Ein eindeutig zweideutig verschmitztes Lächeln zierte mein Gesicht. Die Haare hingen in einem langen Pferdeschwanz herunter, und ich trug weder Hemd noch Pullover.
»Arnie, in Dillistown würde man dich dafür wegen unanständiger Zurschaustellung einsperren.«
»Mein Foto ist ja noch zahm, verglichen mit den anderen.«
Sie las die Sprechblase unter dem Bild laut vor: »Arnie Lester.
Zombooey.
Rettichmann. Rotaugenexpress. Vorsitzender des Marihuanaclubs. Schwimmteam (Jocko). Niemals fairer Wettermann. Gut für großartige Laune und einen guten Fick … und ein bisschen ZEN. B.R., E.L., M.K. danken…« Annie lachte. »Du warst ganz schön clever, was? Und diese Initialen sind vermutlich Mädchen, die du gekannt hast?«
Ich wurde rot.
»Weißt du, Arnie, ich bekomme immer mehr das Gefühl, dass ihr Typen etwas Besonderes gewesen seid. Ihr seid in einer besseren Zeit aufgewachsen. Eure Geheimnisse waren bedeutungsvoller. Die Leute, die mit mir zur Schule gehen, sind wie kleine Kinder. Aber die Leute in diesem Jahrbuch sehen alle aus, als ob sie schon etwas wüssten.«
»Hör mal, Annie. Das meiste von dem, was wir gemacht haben, war nur ein Spiel. Ich will keine falsche Vorstellung in dir erwecken. Radikalität war in, und es war unsere Art, cool zu sein. Genauso wie die Knaben in Dillistown, die ihre Wagen frisieren, wie die Mädchen, die hoffen, dass sie in die Cheerleadergruppe aufgenommen werden, um bei den Footballspielen das Publikum unterhalten zu können… Aber dennoch glaube ich, dass wir vitaler waren. Wir hatten nicht diese Passivität wie die Leute, die heute von der Highschool abgehen. Wir waren nicht so leicht bereit, uns mit verschränkten Armen zurückzulehnen und darauf zu warten, dass die Gesellschaft uns schluckte. Wir hatten wirklich die Absicht, die Dinge etwas aufzurütteln, die Verhaltensmuster zu verändern und alles besser zu machen. Aber jetzt sind wir auch verschluckt worden. Niemand würde uns noch aus der Masse der Amerikaner herausfinden können.«
Annie sah nachdenklich auf die
Weitere Kostenlose Bücher