Die Gelehrten der Scheibenwelt
fragte der Oberste Hirte und schnaufte abfällig. »Und im Meer entwickelte sich alles so gut. Zum Beispiel die netzewebenden Quallen! Und die Krabben, deren Zivilisation sich auch auf dem Land erstreckte! Sie hatten praktisch eine Kultur!«
»Sie fraßen gefangene Feinde bei lebendigem Leib «, wandte der Dozent für neue Runen ruhig ein.
»Nun … ja, aber nicht ohne eine gewisse Etikette«, räumte der Oberste Hirte ein. »Und nur vor der Sandstatue der Großen Wichtigen Krabbe. Sie versuchten ganz offensichtlich, ihre Welt zu kontrollieren. Und was nützte es ihnen? Eine Million Tonnen heißes Eis traf sie direkt zwischen den Augenstielen. Ich finde so etwas unfair.«
»Vielleicht hätten sie mehr Feinde fressen sollen«, sagte der Dekan.
»Vielleicht gelingt es dem Planeten früher oder später, die Botschaft zu verstehen«, sagte Ridcully.
»Wird’s Zeit für riesige Wellhornschnecken?« fragte der Dozent für neue Runen hoffnungsvoll.
»Derzeit haben wir große Molche«, entgegnete Ridcully. Er blickte den Dekan und Obersten Hirten an. Der Erzkanzler hatte seine Spitzenposition auf dem großen und alles andere als stabilen Haufen der UU-Zauberei auch mit Hilfe von politischem Feingefühl behauptet. »Und Molche, meine Herren, könnten der richtige Weg sein. Amphibien? Zu Hause im Wasser und auf dem Land? Das eine tun und das andere nicht lassen.«
Die beiden Zauberer wechselten verlegene Blicke.
»Nun, wenn man es so sieht …«, mutmaßte der Oberste Hirte.
»Es wäre möglich«, meinte der Dekan widerstrebend. »Ja, es wäre möglich.«
»Na bitte«, sagte Ridcully zufrieden. »Die Zukunft gehört dem Molch.«
VIERUNDDREISSIG
Neun von zehn Fällen
»Auf dieser Welt gibt es kein Narrativium.«
Treten wir einen Schritt zurück von der sich entwickelnden Vorfahrengeschichte Vom Fisch, der aus dem Meer kam, und betrachten wir einen philosophischeren Gegenstand. Die Zauberer wundern sich. Auf der Scheibenwelt geschehen Dinge, weil der narrative Imperativ dafür sorgt, daß sie geschehen. Es gibt keine Wahl des Zwecks, nur der Mittel. Der Dozent für neue Runen versucht für eine dauerhafte Lebensform zu sorgen. Er glaubt, der Dauerhaftigkeit stehe die Verletzlichkeit des Lebens im Wege – also sieht er, um Dauerhaftigkeit zu erreichen, nur einen Weg, die Zweimeilen-Napfschnecke, sicher vor allem, was vom Himmel auf sie herabfallen kann.
Ihm kommt es nicht in den Sinn, daß Lebensformen Dauerhaftigkeit mit anderen, weniger direkten Methoden erreichen können, obwohl er mit eigenen Augen sieht, daß eine zähe Beharrlichkeit dem Leben zu erlauben scheint, in der unwirtlichsten Umwelt zu entstehen, sich praktisch immer wieder selbst zu erschaffen. Die Zauberer sind im Zwiespalt zwischen der offensichtlichen Tatsache, daß ein Planet der letzte Ort ist, wo man Leben entstehen ließe, und dem ebenso offensichtlichen Fakt, daß das Leben anderer Ansicht ist.
Auf der Scheibenwelt ist man sich klar darüber, daß in neun von zehn Fällen Zufälle von eins zu einer Million vorkommen.* [ * Das ist nämlich ein Grundprinzip des Geschichtenerzählens. Wenn der Held nicht gegen alle Wahrscheinlichkeit siegen würde, wozu wäre die Geschichte dann gut? ] Der Grund liegt darin, daß jede Figur auf der Scheibenwelt eine Geschichte lebt, und die Erfordernisse der Geschichte legen fest, wie sich ihr Leben entfaltet. Wenn ein Zufall von eins zu einer Million notwendig ist, um die Geschichte in Gang zu halten, dann geschieht er auch, gleichgültig, was die Wahrscheinlichkeit dazu sagt. Auf der Scheibenwelt zeigen sich Abstraktionen in der Regel als Dinge, also gibt es sogar ein Ding – Narrativium –, das dafür sorgt, daß alle dem narrativen Imperativ Folge leisten. Eine weitere Personifikation eines Abstraktums, Tod, sorgt ebenfalls dafür, daß die Geschichte jedes Individuums dann zum Ende kommt, wenn sie soll. Selbst wenn eine Figur versucht, sich entgegen der Geschichte zu verhalten, in der sie sich befindet, sorgt das Narrativium dafür, daß das Ergebnis trotzdem konsistent mit der Geschichte ist.
Was die Zauberer wundert, ist der Umstand, daß unsere Welt anders ist …
Oder nicht?
Immerhin leben auch auf unserer Welt Menschen, und es sind Menschen, die Geschichten steuern.
Nehmen wir eine Geschichte von Menschen am Steuer. Der Ort der Handlung ist die Jerez-Grand-Prix-Rennstrecke, letztes Rennen der Formel-1-Rennsaison 1997/98 … Fahrer-As Michael Schumacher liegt einen Meisterschaftspunkt
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