Die Geliebte des Koenigs
Augen an. „Ist das wahr?“
Er nickte.
Jetzt sah sie den Raum und den wundervollen Innenhof mit ganz anderen Augen. Und sofort kehrte die Trauer um ihre liebsten Freundinnen zurück und zerriss ihr fast das Herz. „Vielleicht sollte ich lieber nicht hier sein …“, flüsterte sie.
„Meine Schwestern haben dich sehr geliebt. Sie würden dich unbedingt hier haben wollen“, entgegnete Sharif ruhig.
Jesslyn versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, und strich noch einmal zärtlich über das rötlich-orange Seidenkissen. „Ich möchte niemandem zu nahe treten …“
„Du trittst niemandem zu nahe.“
„Bist du ganz sicher?“
„Glaubst du mir etwa nicht?“
Jesslyn wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Sie schenkte Sharif ein etwas zittriges Lächeln und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von der Wange. „Normalerweise reagiere ich nicht so emotional“, entschuldigte sie sich. „Aber seit gestern stehe ich irgendwie neben mir …“
„Unser Wiedersehen war ein ziemlicher Schock, nicht wahr?“
Jesslyn sah ihm forschend ins Gesicht. „Für dich auch?“
„Das ist doch nur natürlich, oder? Wir standen uns immerhin einmal sehr nahe. Du kennst mich besser als jeder andere Mensch.“
Nein, dachte Jesslyn. Damals hatte sie es geglaubt, aber sie hatte sich geirrt. Seine Mutter hatte ihn viel besser gekannt als sie. Seine Mutter hatte gewusst, dass er seine Zukunft, dass er den Thron über Jesslyn stellen würde.
Über ihre Liebe.
Und er hatte es getan.
Fröstelnd rieb sie sich über die Arme. „Wo sind die Schulbücher, die du für meinen Unterricht besorgt hast?“, fragte sie. „Ich will sie mir ansehen und allmählich anfangen, den Unterricht vorzubereiten.“
„Heute gibt es noch keinen Unterricht. Nutze den Tag, um die Kinder kennenzulernen und dich ein wenig einzuleben.“
Als es an der Tür klopfte, hellte sich seine Miene auf. „Ah, ich glaube, da sind sie schon!“
Doch es war Sharifs Butler, der eintrat. „Ein dringender Anruf für Sie, Eure Hoheit.“
Sharif runzelte die Stirn. „Sind die Mädchen noch nicht da?“
„Nein, Eure Hoheit.“
„Sie hätten bereits vor einer Stunde hier sein sollen.“
Sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert, aber Jesslyn hörte die Anspannung in seiner Stimme. „Wenn du mich einen Moment entschuldigst …“, sagte er.
„Ja, natürlich.“
„Es dauert sicher nicht lange.“
„Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Ich kann inzwischen auspacken.“
„Ich bin sicher, dass das bereits erledigt ist. Aber wenn du dein Schlafzimmer und das Bad sehen möchtest … sie befinden sich gleich hinter dieser Tür. In der Zwischenzeit lasse ich dir eine Erfrischung servieren.“ Damit wandte er sich zum Gehen.
„Mir geht es gut, Sharif“, versicherte Jesslyn. „Es macht mir nichts aus zu warten.“
Unvermittelt hielt Sharif inne und drehte sich um, sodass seine dishdasha um seine Beine schwang. „Und in diesem Punkt sind wir unterschiedlicher Meinung“, sagte er mit einer Stimme, die ihr wohlige Schauer über den Rücken sandte. „Ich denke, wir haben lange genug gewartet.“
5. KAPITEL
Auf dem Weg zum Telefon kreisten Sharifs Gedanken noch immer um Jesslyn.
Schon damals hatte er sie als außerordentlich schön und anziehend empfunden. Ihr herzförmiges Gesicht, die helle klare Haut, die dunklen seidigen Locken und dazu die warmen braunen Augen, die perfekt geschwungenen Brauen …
Aber irgendetwas war anders. Etwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Immer wieder musste er sie ansehen.
Sie war noch immer schön.
Dennoch hatte sie sich verändert.
Sie wirkte zurückhaltender. Kühler. Verschlossener.
Er hatte sie in den letzten Tagen genau beobachtet. Sie behandelte ihn, wie jeder andere es auch tat – höflich, aber distanziert. Ja, fast respektvoll. Das störte ihn eigentlich nicht. Aber Sharif vermisste die alte Leichtigkeit zwischen ihnen. Jesslyn war immer offen und direkt gewesen. Und sie hatte ihn nie wie einen Prinzen behandelt, sondern wie einen Mann.
Sie hatte ihn herausgefordert, ihn geneckt, mit ihm gelacht. Und sie hatte ihn geliebt …
Ja, sie hatte ihn geliebt, dessen war er sich ganz sicher.
Heute tat sie es nicht mehr. Diese Liebe war vergangen, als sie ihn vor neun Jahren verlassen hatte – nachdem sie sich von seiner Mutter hatte bestechen lassen.
Aber daran wollte er jetzt nicht denken. Seine Antworten würde er später bekommen. Bis dahin war er entschlossen,
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