Die Geliebte des Kosaken
dicht über sich erblickte, kehrten plötzlich ungeahnte Kräfte zurück, sie zog sich an einer verkrüppelten Birke hoch und erreichte den rettenden Bergpfad. Auf dem Bauch liegend, streckte sie Andrej ihre Arme entgegen, doch er ließ sich nur das allerletzte Stück von ihr ziehen und blieb dann erschöpft auf dem Pfad liegen.
Sie kroch zu ihm hinüber, untersuchte seinen Körper, rieb seine Wangen und erreichte schließlich, dass er die Augen öffnete.
„Habe ich dir nicht gesagt …“, murmelte er.
„Ich weiß“, entgegnete sie schuldbewusst, „aber du kannst mich nicht davon abhalten, bei dir zu sein. Andrej.“
Er hob den rechten Arm, und seine Hand glitt sanft an ihrer Wange entlang.
„Nadenka“, seufzte er leise und zärtlich, „sture, süße Nadenka.“
Er richtete sich mühsam auf, und beide starrten hinunter in den Abgrund, wo der Wildbach weiß schäumend durch die Schlucht strömte. Deutlich waren noch die Reste des Bergrutsches zu erkennen, die jetzt zusehends von der Gewalt des reißenden Wassers fortgespült wurden.
„Oleg?“, flüsterte Natalja.
Andrej zog sie fest an sich und starrte weiter in den Abgrund hinunter. „Ich weiß nicht“, sagte er leise und tonlos. Dann schüttelte er sich, als müsse er eine Last von sich werfen. „Wir werden dieses verdammte Gold nie wiederfinden. Und es ist gut so.“
Natalja schwieg einen Moment, dann fragte sie gefasst: „Bedauerst du es?“
„Nein“, gab er ehrlich zu, „ich hätte gewünscht, dir einen Palast zu bauen, meine Nadenka. Aber ich fürchte, du hättest darin nicht einmal wohnen wollen.“
Sie lächelte und strich vorsichtig über seinen rechten Arm, der dicht über dem Ellbogen gebrochen war. „Oh nein“, meinte sie, „ich werde mit dir im Stadthaus meiner Großmutter in St. Petersburg wohnen, Andrej. Und im Winter werden wir auf einem unserer Güter leben – du wirst schon sehen.“
Er lachte und verzog gleich darauf das Gesicht, denn Brust und Arm schmerzten höllisch. „Träumerin“, schalt er sie zärtlich und sah an ihr herab, „wenn du nach St. Petersburg reisen willst, solltest du dich vorher auf jeden Fall umkleiden.“
Sie waren beide nass und schmutzig, Nataljas Kleid war fast völlig zerfetzt.
Der Himmel über St. Petersburg war grau und versprach neue Schneefälle. An den wenigen hellen Stunden des Tages sah man Rauchsäulen aus den Schornsteinen der großen Stadthäuser steigen, Pferdeschlitten glitten fast lautlos über die dicke Schneedecke, die Insassen waren in Pelze gehüllt und hatten rote Nasen vor Kälte. In den schmalen Gassen der Armenviertel standen zerlumpte Kinder um kleine Holzfeuer und wärmten sich die Hände.
Andrej saß gegen die Wand gelehnt und vertrieb sich die Zeit damit, einer Schabe zuzusehen, die auf dem Boden vor ihm herumkroch. Das Tierchen lief ein paar Mal um seinen rechten Schuh herum, besann sich dann eines Besseren und verschwand in einem Ritz zwischen den hölzernen Dielen. Er seufzte und knöpfte seine Jacke zu, dann rieb er sich die Hände, denn der kleine Raum wurde nur einmal am Tag für kurze Zeit geheizt. Sein linker Arm war fast völlig ausgeheilt, nur eine leichte Schwäche der Muskeln erinnerte ihn daran, dass er den Arm sechs Wochen lang in einer Schiene getragen hatte.
Es gab nur ein kleines Fenster im oberen Teil des Zimmers, natürlich war es vergittert, doch er konnte einmal am Tag einen Ausschnitt des grauen Himmels sehen, manchmal auch Schneeflocken, die vorübertrieben. Wahrscheinlich war die Newa jetzt voller Eisschollen, und im Winterpalast brannten den ganzen Tag über die Lichter. Man besuchte Bälle und Gesellschaften, ging ins Theater und amüsierte sich beim Eislaufen. Er kannte das Leben der Petersburger, hatte viel zu lange versucht, Teil dieser Gesellschaft zu sein – jetzt empfand er einen brennenden Hass auf all diese Nichtstuer und Dummköpfe. Der größte aller Dummköpfe war jedoch leider er selbst, deshalb hätte er sich am liebsten mehrfach täglich in den Allerwertesten getreten.
Wo hatte er seinen Verstand gelassen? Seine unter zahlreichen Enttäuschungen und Fehlschlägen erworbene Skepsis? Wie kam es nur, dass er Natalja blind vertraut hatte und prompt wie ein naiver Tölpel in die Falle gegangen war?
Er stand auf, um einige Runden in dem kleinen Raum zu drehen, denn das ewige Sitzen machte ihn fast wahnsinnig. Nein, er konnte ihr nichts vorwerfen, sie hatte alles getan, was nur möglich war, sie würde auch jetzt noch
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