Die Geliebte des Normannen
Nähe nicht beunruhigt zu sein, doch er bewegte sich nicht und atmete kaum, so interessiert verfolgte er das Gespräch zwischen ihr und seiner Mutter. Zumindest hatte es diesen Anschein.
»Na ja,« Lady Ceidre lächelte etwas, »er ist ein sehr gut aussehender Mann, nicht wahr? Das konnte mir nicht verborgen bleiben. Und wie Ihr wisst, ist mein Gemahl ein guter Mensch. Er gehorchte seinem König, nicht mehr und nicht weniger, und das müssen wir schließlich alle tun. Obwohl ich heimlich meine aufständischen Brüder unterstützte, verliebte ich mich in ihn. Was die Sache noch schlimmer machte: Bald darauf wurde er mit meiner Schwester Alice verheiratet, der ehelichen Tochter meines Vaters. Wir waren von Anfang an Feinde, aber wir verliebten uns trotzdem ineinander.«
Für einen Moment verlor sie sich offenbar in der Vergan genheit, plötzlich wirkte ihr Gesicht jung, und ihre Augen glänzten.
Sie seufzte.
»Es war nicht leicht. Ich hinterging ihn wieder und wieder in dem Glauben, das sei meine Pflicht. Er war so wütend. Aber ... die Zeit heilt alle Wunden, Mary. Sie hat auch die unseren geheilt. Und als die Wunden nicht mehr so schmerzten, war die Liebe immer noch da, stärker als zuvor.«
Mary fragte sich, was mit Alice geschehen war, der ersten Gemahlin des Grafen. Offenbar war sie frühzeitig gestorben, sodass der Graf dann seine Liebe hatte heiraten können.
»Es ist eine traurige Geschichte«, sagte sie, sich dessen wohl bewusst, dass Stephen ihr aufmerksam zuhörte, »aber eine sehr schöne.«
»Ich habe großes Glück gehabt«, fuhr Ceidre freundlich lächelnd fort. »Und Ihr ebenfalls, meine Liebe, auch wenn Ihr es noch nicht wisst. Manchmal ist der Weg zum Glück lang und entbehrungsreich, doch die Mühsal des Weges macht die Belohnung am Ende um so vieles größer.«
Mary blickte auf das Schneidebrett, das sie sich mit ihrem Gemahl geteilt hatte. Sie hatten es zwar gemeinsam benutzt, und er hatte ihre Portionen für sie ausgewählt, wie es sein sollte, doch in seinem Tun hatte keine Wärme, keine Liebe gelegen. Es war nur höfliche Pflichterfüllung gewesen, nicht mehr. Mary fühlte sich von der törichten Romantik, die sie zu vermeiden suchte, überwältigt. Wie sehr sehnte sie sich nach der Art von Liebe, die die Gräfin mit ihrem Gemahl gefunden hatte, einer Liebe, die stark genug war, selbst schlimmste Zeiten zu überdauern – die groß genug war für die Ewigkeit.
Es war ungewöhnlich still im Saal. Mary merkte, dass die Gefolgsleute unten am Tisch jedem Wort der Gräfin gelauscht hatten – und auch den ihren. Sie blickte plötzlich auf, wissend, was alle, die Gräfin eingeschlossen, dachten. Alle waren von ihrer Schuld überzeugt. Alle meinten, dass sie ebenso wie Lady Ceidre töricht aber vorsätzlich ihren Gemahl verraten hatte. In einer Liebesgeschichte, die mit vollem Magen und in einer von gutem Wein beeinflussten Stimmung erzählt wurde, war das akzeptabel, ja sogar romantisch; in der Realität jedoch nicht. Sie blickte der Gräfin in die Augen.
»Ich habe meinen Gemahl nicht verraten, Madame«, sagte sie zu ihr, doch alle hörten es. »Ich würde mein Ehegelübde niemals brechen.«
Stephen vermied es, sich für die Nachtruhe zurückzuziehen, obwohl er so erschöpft war, dass er spürte, wie seine Lider mit jeder Minute schwerer wurden. Er saß im großen Saal vor dem verlöschenden Feuer, die vielen Gefolgsleute schliefen auf ihren Lagern, und seine Mutter, seine Schwester und auch seine Gemahlin waren längst zu Bett gegangen. Er aber starrte noch immer in die Glut und beobachtete jede gelegentlich aufflackernde Flamme. Marys vehemente Verneinung jeglicher Falschheit von ihrer Seite ging ihm im Kopf herum.
Die Tür öffnete sich mit einem ächzenden Geräusch, fiel schwer wieder zu und ließ Stephen aufschrecken. Brand kam in den Saal geschlendert.
»Was? Du bist noch auf?« Er trat näher.
Weshalb er so spät noch auf den Beinen war, ließ sich unschwer erraten. Er wirkte rundum zufrieden, und als er sich zu seinem Bruder setzte, bemerkte Stephen, dass seine Haare zerwühlt und voller Stroh waren.
»Wenn ich so eine Braut hätte, würde ich nicht hier herumsitzen«, meinte Brand grinsend.
»Vielleicht ist genau das mein Problem.«
Brands Lächeln erstarb. »Was ist los mit dir, Stephen? Man sieht dir an, dass du sehr unglücklich bist.«
»Das fragst du noch?« Er hörte, wie verbittert er klang, und beschloss, sich mehr zusammenzureißen. »Ich weiß, dass du nicht gern
Weitere Kostenlose Bücher