Die Geliebte des Normannen
kennen.«
Mary schaute weg; es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Sie fürchtete, seine Beharrlichkeit könnte größer sein als die ihre.
Sie betraten den großen Saal. Zwei große, rechtwinklig zueinander gestellte Tische beherrschten den Raum – der eine stand erhöht und unbesetzt, dort würde sicherlich der Graf mit seiner Familie Platz nehmen. An dem tiefer gelegenen Tisch saßen die Ritter der Burg und andere Waffenträger beim Essen. Es wurde von Mägden aufgetragen, die Mühe hatten, die Annäherungsversuche mancher ihrer Gäste zurückzuweisen; andere Gefolgsleute vertrieben sich die Zeit mit Spielen oder hockten beim Trinken zusammen. Der Haushofmeister beaufsichtigte das ganze Geschehen.
An den Wänden hingen wunderschöne, farbenfrohe Bildteppiche, in einem gewaltigen steinernen Kamin prasselte ein Feuer, und der Boden war mit frischen, duftenden Binsen bedeckt. Mary stellte überrascht fest, dass sich kein einziger Hund im Raum befand. Vor der Feuerstelle standen zwei große, geschnitzte und mit Kissen gepolsterte Stühle, dieselben wie auch am Kopfende der erhöhten Tafel. In einem dieser Stühle sah Mary den blonden Hinterkopf eines Mannes und erstarrte im ersten Augenblick, denn sie dachte, es handele sich um den Grafen von Northumberland.
Doch es war ein junger Mann, nur ein oder zwei Jahre älter als sie selbst, der dort alleine saß. Als sie in den Saal kamen, erhob er sich mit ungewöhnlicher Anmut und kam ihnen entgegen.
Er hatte goldenes Haar und blaue Augen und sah sehr gut aus; seine helle Haut erschien von etwas zu viel Sommersonne leicht goldbraun getönt. Der Blick seiner dunkelblauen Augen war ganz auf Mary konzentriert, und sein angedeutetes Lächeln war einfach umwerfend.
»Darf ich davon ausgehen, dass deine Anwesenheit irgendetwas zu bedeuten hat?«, fragte Stephen ihn trocken und fügte hinzu: »Und, Brand, sie ist mein!«
Schließlich bequemte sich Brand seinen Bruder anzusehen und verbeugte sich wie zum Spott vor ihm.
»Natürlich. Ich füge mich dem Erben. Und ja, ich bin ein Gesandter Seiner Hoheit, wie du zweifellos erraten hast.«
Mary versteifte sich. Gegen Stephens Behauptung, sie sei sein Besitz, zu protestieren, erschien ihr plötzlich unwichtig. Stattdessen schoss ihr durch den Kopf, dass sie sich in einer Position befand, in der sie die geheimsten Pläne ihres Feindes kennenlernen und ihrem Vater während ihres erzwungenen Aufenthalts unschätzbare Dienste leisten konnte – wenn sie sich nämlich zu der Spionin machte, die zu sein Stephen sie ohnehin schon beschuldigt hatte.
»Alles ist gut, Brand; keine Aufregung.« Stephen legte seine große Hand auf Marys Schulter. »Wir unterhalten uns später. Wann müsst Ihr zurückkehren?«
»Sofort.« Brand musterte Mary mit einem neuerlichen, fast spöttischen Lächeln und ohne jeden Humor in den Augen. »Was soll das? Keine Vorstellung? Hast du Angst, sie könnte mich dir vorziehen? Haben wir nicht genügend Mägde, die dir zu Gefallen sind, oder hast du sie am Ende schon alle durch?«
Stephen ignorierte diese offenkundige Verhöhnung. »Mademoiselle Mairi, dies ist mein großmäuliger kleiner Bruder Brand, Hauptmann der königlichen Leibgarde. Seine Versuche, humorvoll zu sein, könnt Ihr einfach missachten, sie sind ohnehin jämmerlich. Außerdem – er ist der Liebhaber, nicht ich.«
Seine letzten Worte bezweifelte Mary sehr. Wenn es um das schöne Geschlecht ging, waren die Brüder zweifellos beide unbußfertige Räuber. Sie waren sehr unterschiedlich – der eine so goldblond, der andere so dunkel, aber beide sahen blendend aus; keine Frau würde ihnen gegenüber gleichgültig bleiben. Mary erwiderte Brands Lächeln nicht, sondern musterte ihn argwöhnisch.
Brands kühner Blick wandelte sich zu einer stummen Frage und schwenkte von Mary zu Stephen.
»Sie ist mein Gast«, erklärte dieser kurz angebunden und damit jede weitere Frage abwehrend.
»Welch ein Glück für dich«, murmelte Brand und wandte sich mit einem letzten Blick auf beide wieder versonnen dem Feuer zu.
»Ich bin nicht Euer Gast«, erwiderte Mary verärgert und schüttelte seine Hand ab. »Gäste misshandelt man nicht. Gäste können kommen und gehen, wann sie wollen. Sagt Ihr nicht einmal Eurem eigenen Bruder die Wahrheit?«
Stephen bedachte sie mit einem eisigen Blick.
»Ihr werft mir vor, nicht die Wahrheit zu sagen?«
Mary errötete, weigerte sich jedoch beherzt, klein beizugeben.
»Jawohl, das tue ich.« Er hob eine Hand. Sie
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