Die Geliebte des Normannen
glaubte nicht, dass er sie schlagen würde, zuckte aber dennoch zusammen. Er strich mit dem Zeigefinger über ihre Wange und hielt an ihrem Mundwinkel inne.
»Aber Demoiselle, Ihr seid es doch, der sich verstellt, oder etwa nicht?«
»Nein!«, krächzte Mary und zuckte zurück. »Ich habe erklärt, weshalb ich mich verkleidet hatte. Ich habe alles erklärt. Ihr müsst mich freilassen, sofort!«
»Ihr scheint verzweifelt, Demoiselle. Gebt Eure wahre Identität preis, dann können wir sofort über Eure Freilassung sprechen.«
»Nachdem Ihr mich vergewaltigt habt!«
Stephen schaute sie finster an.
»Wie ich bereits sagte, wird es keine Vergewaltigung geben.«
Ihre Blicke trafen sich.
Wieso war sie drauf und dran, ihm Glauben zu schenken? Wieso war sie beinahe enttäuscht? Sicher war ihre Bestürzung eine Reaktion auf ihre insgesamt so missliche Lage und nicht auf seine Zusicherung.
Stephen lächelte frostig.
»Wenn ich mit Euch ins Bett gehe, Demoiselle, dann wird es Euch gefallen.«
Mary konnte sich weder bewegen noch etwas erwidern. »Gestern habt Ihr Glück gehabt. Heute ... heute wird mir dieses Spielchen zu langweilig.«
Sie fand ihre Stimme wieder, doch sie klang heiser und belegt.
»Es ist kein Spiel.«
Sein Lächeln war jetzt noch kälter als zuvor, doch seine Augen wirkten wesentlich heller.
»Wenn Ihr Eure Jungfräulichkeit bewahren wollt, solltet Ihr Euch besser sofort zu erkennen geben.«
Ihr Atem stockte.
»Ich habe mir den letzten Schwertstreich noch nie versagen können, wenn ich in der Schlacht war, Demoiselle«, fügte er sehr leise hinzu. »Es ist an der Zeit, Euch zu ergeben.«
»Nein«, flüsterte Mary. Ihr ganzer Körper wurde von einer Hitzewallung erfasst.
»Doch«, murmelte er verlockend.
»Aber ...« Sie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. »Ich dachte, Ihr schickt Spione nach Liddel, um festzustellen, ob ich die Wahrheit sage oder nicht! Das dauert doch sicher eine Weile!«
»Wenn Ihr eine Person von Rang und Stand seid, werdet Ihr mir das sicher lieber freiwillig mitteilen, bevor ich Euch verführe.«
Ihr Herz pochte heftig, ihre Blicke blieben aufeinander gerichtet. Es fiel Mary schwer zu atmen, zu denken. Sie wusste nur, dass sie ihm nicht sagen konnte, nicht sagen durfte, wer sie wirklich war.
»Meine Geduld ist zu Ende. Wenn Ihr seid, wer Ihr zu sein vorgebt, werdet Ihr nach der kommenden Nacht meine Geliebte sein«, erklärte Stephen unumwunden.
Schweigen hing einem Damoklesschwert gleich über ihnen. Mary war kreidebleich. Händeringend suchte sie verzweifelt nach einer Lösung für das Dilemma, in das er sie gebracht hatte. Wenn sie weiter darauf bestand, Mairi Sinclair zu sein, würde er sie entehren – noch heute Nacht. Sein Anblick, nackt und erregt, kam ihr in den Sinn, sie wusste nicht, ob das, was sie fühlte, Vorfreude oder Entsetzen war. Doch sie konnte ihm ihre wahre Identität nicht preisgeben, sie konnte es nicht.
»Ich bin Mairi Sinclair«, erklärte sie mit trockenen, steifen Lippen.
Seine Reaktion kam augenblicklich.
»Meine Kammer ist gleich die erste im oberen Stockwerk. Geht hinauf und erwartet mich dort.«
Mary biss die Zähne zusammen. Ihre Brüste hoben und senkten sich schwer. Sie bewegte sich nicht, sondern blickte ihn nur unentwegt an.
»Geht hinauf und erwartet mich«, wiederholte er leise.
Wieder trafen sich ihre Blicke. Mary kam der Gedanke, dass es angesichts der Lage, in der sie sich befand, verrückt war, sich mit diesem Mann messen zu wollen. Sie konnte nicht gewinnen. Sie sollte aufgeben, kapitulieren, wie er es ihr unzweideutig nahegelegt hatte, sich ihm erkennen geben. Verschwommene, leidenschaftliche Bilder überfluteten ihre Gedanken, Bilder eines Liebespaars, umeinander gewundene Körper. Bilder von ihr und Stephen de Warenne ... Nein, sie konnte ihren Vater nicht verraten und an den Bettelstab bringen, ihren König, den sie über alles liebte und verehrte.
Mary straffte die Schultern, drehte sich langsam und hoch erhobenen Hauptes um und ging.
Im ersten Augenblick blieb Stephen reglos stehen und beobachtete, wie sie auf die Wendeltreppe zuschritt. Dann schnippte er mit den Fingern und deutete auf sie, und einer seiner Wachmänner eskortierte Mary zu seinem Gemach. Auch sein Bruder beobachtete sie; im Saal herrschte eine beinahe gespenstische Stille.
Dann lachte plötzlich jemand schallend auf, weiteres Gelächter folgte, und die Gespräche wurden wieder aufgenommen. Einer der Ritter schlug einer
Weitere Kostenlose Bücher