Die Geliebte des Normannen
hinaus.
Pferde wurden gesattelt, das Lager abgebrochen, alle schienen beschäftigt. Mary sah Stephen mit einem anderen Ritter reden, er hatte ihr den Rücken zugewandt.
Sie atmete tief durch und betete, dass er sie nicht bemerken möge. Aber plötzlich drehte er sich um und sah sie. Mary ignorierte ihn in der Hoffnung, man werde ihr ihre plötzliche Aufregung nicht ansehen, und ging auf den Wald zu. Sie war sich dessen bewusst, dass ein Ritter ihr folgte, offenbar, um sie zu bewachen. Das ließ ihren Mut etwas sinken, nicht aber ihre Entschlossenheit. Sie verschwand hinter einem Baum und ein paar Büschen, um ihre Notdurft zu verrichten. Dann riss sie ein Stück von ihrem Seidenhemd ab, das sie unter dem bäuerlichen Wollhemd trug. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie mehrere Versuche unternehmen musste, das helle Stückchen Stoff an einen Ast zu binden. Danach riss sie noch einige Streifen mehr ab, versteckte sie in ihren Ärmeln und ging um die Büsche herum an ihrem Bewacher vorbei. Nun konnte sie neue Hoffnung schöpfen. Sicher würden die Schotten, die nach ihr suchten, ihre Zeichen finden!
Der Ritter eskortierte sie zum Lager zurück. Stephen de Warenne unterhielt sich mit dem Mann, der sie gestern aufgegriffen hatte.
»Liddel?«, sagte Will. »Das sollte kein Problem sein, Stephen; schließlich werden sie heute Abend von der Hochzeitsfeier alle ganz schön betrunken sein. Ich werde herausfinden, was ihr wissen wollt, Mylord.«
Er grinste großspurig.
Stephen klopfte ihm auf die Schulter.
»Viel Glück.« Dann wandte er sich lächelnd Mary zu. »Wollt Ihr jemandem eine Nachricht zukommen lassen? Eurem Geliebten vielleicht?«
Mary erstarrte für einen Moment.
»Habt Ihr Augen im Hinterkopf, wie ein missgestaltetes Ungeheuer?«
Ihre Bemerkung belustigte ihn.
»Wolltet Ihr tatsächlich heimlich lauschen? Wenn Ihr meine Absichten erfahren wollt, braucht Ihr mich nur zu fragen, Demoiselle.«
»Weshalb reitet er nach Liddel?«
»Habt Ihr etwas zu verbergen?« »Natürlich nicht.« – »Dann habt Ihr auch nichts zu befürchten.«
Er spielte mit ihr, erforschte sie, und sie hatte berechtigte Angst.
»Warum tut Ihr das?«
Seine amüsierte Miene verschwand.
»Ich kann nicht anders.«
Sie fixierten einander. Für kurze Zeit erkannte Mary in seinem durchdringenden Blick ein heftiges Verlangen und große Entschlossenheit. Er übte eine Kraft auf sie aus, der sie nichts entgegensetzen konnte. Eine plötzliche Vorahnung, die sie nicht zu begreifen wagte, ließ sie erschaudern. Es war weitaus sicherer, das, was sich zwischen ihnen abspielte, zu ignorieren; vorzugeben, dass es nicht existierte, nie existiert hatte.
Er brach den Bann, mit dem er sie belegt hatte.
»Kommt, wir brechen auf; Ihr reitet mit mir.«
Mary rührte sich nicht vom Fleck.
Er ließ die Hand, die er ihr angeboten hatte, sinken.
»Stimmt etwas nicht, Mairi?«
»Ich reite mit jedem, aber nicht mit Euch.«
Er baute sich vor ihr auf und blickte auf sie herab und lächelte herausfordernd.
»Ich lasse Euch keine Wahl, Mademoiselle.« Er lächelte immer noch.
»Außerdem wird es sehr unterhaltsam sein, mit mir zu reiten.«
Sie verstand seine Anspielung und spürte, wie sie feuerrot wurde, aber wenigstens konnte sie mit seiner unverblümten Art umgehen.
»Wie sehr Ihr von Euch eingenommen seid.«
Er lachte.
»Kam diese Bemerkung aus dem Mund einer Lady?«
»Es ist mir einerlei, was Ihr von mir denkt«, erwiderte sie verbissen. »Wo ist Euer verdammtes Pferd?«
Noch immer lächelnd zeigte er darauf.
Mary ging zu dem großen braunen Streitross hinüber; sein Lachen verfolgte sie.
Sie war entschlossen, ihn zu überlisten und über ihn zu triumphieren, koste es, was es wolle. Dann würde sie es sein, die lachte.
Stephen hob sie mühelos in den Sattel und saß dann elegant hinter ihr auf. Mary versuchte, ihn zu ignorieren, und hielt sich am Sattelknauf fest. Es würde ohne Zweifel ein langer Tag werden.
Sie ritten in raschem Trab nordostwärts, fort von Carlisle, durch felsiges Hügelland. Der September hatte viel Regen gebracht; die Gegend war von saftigem Grün überzogen. Schon bald wurde Mary klar, dass Stephen Alnwick noch am selben Tag erreichen wollte. Was immer die Normannen vorgehabt hatten, das hatten sie offenbar erreicht. Sie überlegte, was das wohl gewesen war. Sie musste unbedingt in Erfahrung bringen, was die Normannen so nahe bei Carlisle und Liddel gemacht hatten.
Und nach jeder verstrichenen Stunde ließ sie
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