Die Geliebte des Normannen
einen Streifen ihres Hemds aus dem Ärmel fallen.
Sie behielten ihr straffes Tempo bis zum Mittag bei, als sie anhielten, um die Pferde zu tränken. Inzwischen waren sie bereits von den rauen Mooren Northumberlands umgeben, über die sich ein endloser, grauer Himmel spannte. Gelegentlich segelten Möwen über sie hinweg. Mary ließ sich dankbar zur Erde gleiten, erschöpft von der vertraulichen Situation, endlos lange Stunden mit ihrem Häscher den Sattel teilen zu müssen. Sie glaubte, näher könne sie der Hölle nicht mehr kommen.
Niemand nahm Notiz von ihr. Die Ritter um sie herum sprachen leise, ihre Pferde tranken begierig. Mary trat zu einem einzeln stehenden, kahlen Baum, setzte sich, Müdigkeit vorschützend, nieder und ließ ein weiteres Stück ihres Hemds fallen. Als die Ritter einige Minuten später wieder aufsaßen und sich versammelten, schlenderte sie zu der Gruppe zu rück. Stephen de Warenne lenkte sein großes Streitross langsam auf sie zu.
»Erfreut Euch die schöne Szenerie, Demoiselle?« Sie blickte ihn wütend an.
»Woran sollte man sich hier erfreuen können? Ich bin nur von Hässlichkeit umgeben.«
»Wie eine echte Schottin gesprochen.« Sein Blick durchbohrte sie. »Seid Ihr eine echte Schottin, Mairi?«
Sie stand reglos da. War er der Teufel – konnte er Gedanken lesen? Oder hatte er ihre Identität erraten? Ihre Mutter, Königin Margaret, war Engländerin. Margarets Bruder war Edgar Etheling, ein Großneffe des sächsischen Königs Eduard des Bekenners; er war vor der Eroberung Englands der Thronerbe gewesen.
Als Wilhelm der Bastard in England einfiel, war Margarets verwitwete Mutter aus Angst um das Leben ihres Sohnes mit ihren Kindern nach Schottland geflohen. Malcolm verliebte sich auf den ersten Blick in Margaret, und als seine Gemahlin Ingeborg starb, heiratete er sie sehr bald nach deren Tod.
»Ich bin Schottin, durch und durch«, erklärte Mary, und sie meinte es ernst.
»Ihr sprecht nicht wie eine Schottin – außer, wenn Ihr wollt. Euer Englisch ist tadellos, sogar besser als meines.«
Natürlich war ihr Englisch tadellos, und das nicht nur, weil ihre Mutter Engländerin war. Malcolm hatte seinen Hof aus Ehrerbietung für seine Gemahlin im Lauf der Jahre anglisiert.
»Vielleicht sind die Normannen zu dumm und einfältig, um gutes Englisch zu lernen.«
Er biss die Zähne zusammen.
»Vielleicht ist dieser Normanne hier in der Tat einfältig.« Mit einem rätselhaften Blick auf sie glitt er von seinem Pferd. Mary widerstrebten seine Worte und sein Ton. Als er an ihr vorbeiging, anstatt sie in den Sattel zu heben, erstarrte sie.
Stephen schritt direkt auf den kahlen Baum zu, bei dem sie gesessen hatte. Mary blieb fast das Herz stehen. Er bückte sich, hob das Stückchen Stoff auf, das sie fallen gelassen hatte, und kam mit finsterer Miene wieder zurück.
»Was seid Ihr doch für ein kluges kleines Biest!«
Mary trat zurück.
Seine Hand schnellte vor; er schob Mary vor sich her. »Wenn Ihr so erpicht darauf seid, Eure Kleidung loszuwerden, braucht Ihr es mir nur zu sagen, Demoiselle!«
Sie war zu keiner Erwiderung fähig, schon gar nicht angesichts seiner unverhüllten Wut.
»Seit wann hinterlasst Ihr diese Zeichen schon, Demoiselle? Seit wann?«
3
»Ihr tut mir weh!«, schrie Mary.
Stephen ließ sie augenblicklich los. Sie ging auf Abstand zu ihm und rieb sich die Arme.
»Habt Ihr wirklich geglaubt, Ihr könntet mich kampflos gefangen nehmen?«
Stephen bedauerte, ihr wehgetan zu haben, doch ihre Worte provozierten ihn so, dass er sie am liebsten erneut geschüttelt hätte. Diese Kindfrau war entschlossen, gegen ihn zu kämpfen?
»Wie lange schon?«
»Seit heute Morgen.«
Er konnte es nicht glauben, ihre Kühnheit, ihre Waghalsigkeit, ihre Tapferkeit verblüfften ihn.
»Ich habe mich sehr in Euch getäuscht«, sagte er barsch und rief dann: »Neale!«
Einen Augenblick später war der ältere Mann an seiner Seite.
»Mylord?«
Stephens wütender Blick blieb auf seine Gefangene gerichtet.
»Dieses verwegene kleine Biest hat uns alle hinters Licht geführt. Sie hat eine Spur hinterlassen. Die Männer sollen auf der Hut sein; wir werden womöglich verfolgt.«
Neale wendete sein Streitross.
Als Mary sich davonschleichen wollte, zog Stephen sie näher zu sich. Sie spannte sich an, als er sie berührte; er musste sie mit sich schleifen.
»Für wen habt Ihr die Spur gelegt, Demoiselle? Für Euren Geliebten? Für Euren Vater?«
»Jawohl!«, schrie sie. »Ja,
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