Die Geliebte des Normannen
eine Invasion«, sagte Geoffrey, »und du kannst sicher sein, dass Vater sein Bestes tut, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Zweifellos wird Malcolm, dieser Schurke, den Frieden beenden. Er ist ein Barbar, er wird sich nicht ändern.«
Geoffrey hatte recht. Stephen wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser kostbare Friede auf die eine oder andere Weise gebrochen würde. Malcolm Canmore hatte William Rufus vor zwei Jahren in Abernathy zwar die Treue geschworen, doch so etwas hatte ihn bisher nicht von einem Verrat abgehalten. Es war unumgänglich, dass Malcolm früher oder später in Northumberland einmarschieren würde. Bei seiner letzten, erfolglosen Invasion hatte er Stephens am weitesten im Norden gelegenen Rittergütern erhebliche Schäden zugefügt. Die Ernten wurden vernichtet, sodass Stephen im letzten Winter gezwungen gewesen war, für teures Geld Vorräte zu kaufen, damit seine Vasallen nicht Hunger litten. Auch einige der Söldner mussten für diesen Feldzug noch bezahlt werden. Dieses Problem, wie so viele andere, würde seine Ehe mit Adele Beaufort lösen.
Plötzlich dachte Stephen nicht mehr an Krieg und Frieden, sondern an seine Gefangene. Warum in aller Welt hatte sie sich ihm widersetzt, bis es zu spät gewesen war?
»Und wer ist nun das stimmgewaltige Frauenzimmer?«, fragte Geoffrey mit unverhülltem Spott, als hätte er Stephens Gedanken erraten.
Stephen errötete unwillkürlich. Waren seine Gedanken so offensichtlich gewesen?
»Sie ist meine Geliebte, und dabei wollen wir es dann auch bewenden lassen.«
»Deine Geliebte!«, rief Geoffrey ungläubig. »Schämt Euch, Mylord, dass Ihr Euch quasi am Vorabend Eurer Hochzeit eine Geliebte nehmt! Soll ich Eure Buße festsetzen?«
»Vielen Dank, nein.«
Geoffrey wurde wieder ernst.
»Es überrascht mich, dass du dir eine Geliebte genommen hast, Bruder. Sei vorsichtig. Neuigkeiten verbreiten sich rasend schnell, vor allem solche, die sich verheerend auswirken können. Du willst doch nicht deine Allianz mit der Erbin von Essex aufs Spiel setzen. Ich habe von Lady Beaufort nicht den Eindruck, dass sie eine verständnisvolle oder verzeihende Frau ist.«
»Zuerst Brand, und jetzt du«, erwiderte Stephen, nun wirklich verärgert. Geoffreys Worte machten ihm die schwierige Lage bewusst, in die er sich gebracht hatte. »Ich bin kein dummer Junge, dass man mich derart tadeln muss. Lady Beaufort wird an Weihnachten mit mir vor dem Traualtar stehen.«
In diesem Augenblick, noch ehe Geoffrey etwas erwidern konnte, ließ ein Geräusch an der Treppe die beiden Brüder aufschauen. Stephen zuckte zusammen, als seine Gefangene um die Ecke stolperte und wie angewurzelt stehen blieb, den Blick starr auf ihn gerichtet. Anscheinend hatte sie am Fuß der Treppe gelauscht und plötzlich das Gleichgewicht verloren. Wenn Blicke töten könnten, dachte er, wäre ich bereits nicht mehr unter den Lebenden.
Er lächelte, stand langsam auf und merkte, wie ihm das Blut durch die Adern schoss und in seine Lenden. Schlagartig konnte er sich an jede Einzelheit der vergangenen Nacht erinnern – ihren Widerstand, ihre Kapitulation. Und er hatte noch lange nicht genug.
»Habt Ihr meinen Bruder und mich belauscht, Mademoiselle?« Er trat vom Podest herunter.
Sie richtete sich auf.
»Nein.«
Stephen lächelte immer noch; dieses Lächeln hatte er bei vielen Gelegenheiten eingesetzt, in denen er einem besonders gefährlichen Feind gegenübergestanden hatte. Er blieb vor ihr stehen und blickte ihr in die Augen.
»Ah, das Frauenzimmer von letzter Nacht«, bemerkte Geoffrey mit unverhohlenem Interesse. »Du hast nie eine bessere Wahl getroffen, Stephen. Sie ist eine wahre Schönheit.«
Stephen warf seinem Bruder einen finsteren Blick über die Schulter zu. »Ich bin vollkommen deiner Meinung.« Der Besitzanspruch in seinem Ton war nicht zu verkennen.
Mary ballte wutentbrannt die Fäuste. Dass er über sie sprach, als sei sie gar nicht anwesend, machte sie fast ebenso zornig wie die Tatsache, dass die beiden so beiläufig über sie sprachen, wenn sie sie abwesend glaubten. Aber am meisten ärgerte sie der Inhalt des Gesprächs, das sie soeben belauscht hatte – dass der Normanne mit einer anderen verlobt war.
»Er will uns nicht miteinander bekannt machen«, meinte Geoffrey belustigt, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das intensive Leuchten in seinen Augen war alles andere als höflich. »Zweifelsohne hat er Angst, dass Ihr uns vergleicht und er dabei den
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