Die Geliebte des Normannen
erwiderte den forschenden Blick seines älteren Bruders. Traurigkeit huschte über seine Züge.
»Lanfranc war mir mehr ein Vater als unser eigener, das weißt du ja. Trotz meiner Weltlichkeit hat er verziehen – und verstanden. Ich bin, ganz ehrlich gesagt, zerrissen. Einmal wünsche ich mir den Tag von Anselms Ernennung herbei und dann wieder nicht. Am Anfang werden wir Freunde sein, aus dem Bedürfnis heraus, das Erzbistum vor dem König zu schützen. Aber am Ende?« Geoffrey zuckte die Achseln.
»Anselm ist ein heiliger Narr, wenn er nicht sieht, was für einen mächtigen Verbündeten er in dir hat«, bemerkte Stephen schroff.
»Manche Menschen gehen keine Kompromisse ein, wenn es um die Moral geht – sie können es nicht.«
Stephen versuchte, in den Zügen seines Bruders zu lesen, doch Geoffrey wich seinem Blick aus.
»Du bist nicht unmoralisch.«
»Er hat mich gefragt, warum ich nicht zum Priester geweiht bin.«
Stephen starrte ins Leere. Es überraschte ihn nicht, dass Anselm wissen wollte, weshalb sein Erzdiakon noch immer nicht sein letztes Gelübde abgelegt hatte – darüber hatte sich auch Stephen schon gewundert. Er vermutete, dass Geoffrey selbst den Akt hinauszögerte. Und Stephen hatte auch einen Verdacht, weshalb.
»Und was hast du ihm geantwortet?«
Geoffrey blickte auf, die Augen zusammengekniffen. »Dass ich kein Lanfranc bin.«
Diese Antwort enttäuschte Stephen, doch er hätte wissen müssen, dass der Bruder seine innersten Geheimnisse nicht preisgeben würde. Um die Spannung zu mildern, lächelte er.
»Gott sei Dank.«
Geoffrey lachte; seine Fassade war wieder makellos. Stephen stimmte mit ein. Der Augenblick der Spannung – und der beängstigenden Intimität – war vorüber. »Es war zu erwarten, dass Rufus einen Nachfolger ernennen würde, nicht wahr?«, sagte Stephen und schenkte ihnen beiden Ale ein. »Wie lange konnte er den bischöflichen Stuhl unbesetzt lassen? Gleichgültig, wie sehr er Canterbury zur Ader lässt, das Fehlen eines Erzbischofs war selbst für den König eine zu große Sache. Sicher hast du dich auf diesen Tag vorbereitet.«
Geoffrey verschränkte die Arme und fixierte seinen Bruder mit glänzenden Augen.
»Ich bereite mich auf diesen Tag seit dreieinhalb Jahren vor, seit Lanfrancs Tod, indem ich das Erzbistum nach bestem Wissen und Gewissen und mit der Hilfe meiner fähigen und loyalen Mitarbeiter verwalte. Aber hinsichtlich des Kampfs um die Gelder stehe ich auf verlorenem Posten.« Seine Miene war hart. » Anselm wird feststellen, dass sein Schiff leicht zu navigieren ist, doch der Kurs, den er steuern muss, birgt viele Gefahren. Ferner glaube ich, dass er sich beim König wesentlich leidenschaftlicher für seine Belange einsetzen wird, als man ihm gemeinhin zutraut.«
Stephen betrachtete seinen Bruder, den Erzdiakon von Canterbury. Dessen Mentor, Erzbischof Lanfranc, hatte ihn vor vier Jahren, auf dem Sterbebett liegend, in dieses Amt berufen. Aber schon vor seiner Ernennung war Geoffrey Lanfrancs rechte Hand gewesen. Nach dem Tod seines Freundes und Mentors hatte er dessen Geschäfte weitergeführt und das Erzbistum bis zur Ernennung eines Nachfolgers geleitet. Zudem hatte er sich ständig insgeheim gegen den König stellen müssen, um die Kontrolle über die kirchlichen Einkünfte zu behalten.
»Ich bringe weitere Nachrichten«, sagte Geoffrey. »Ich bin an den Hof bestellt. Meine Spione haben mir berichtet, dass man mich nach meinen Besitzverhältnissen befragen will, vor allem nach den Rittern und den anderen Bewaffneten in meinem Dienst.« Er errötete. »Ich meine natürlich die Besitzverhältnisse des Erzbistums.«
Das war in der Tat eine interessante Neuigkeit. Sie konnte freilich mit dem neuen Erzbischof in Zusammenhang stehen – oder auch nicht.
Stephen zog erstaunt eine Braue hoch und erwiderte: »Und ich wurde nach Carlisle geschickt, um festzustellen, ob die Zeit reif ist, es einzunehmen.«
»Und, ist sie es?«, fragte Geoffrey und trommelte mit den langen, schlanken Fingern auf den Tisch.
»Ja.«
»Nun, für den Augenblick kannst du ruhig davon ausgehen, dass Rufus nicht an eine Invasion denkt, sondern an Buße für seine Sünden«, murmelte Geoffrey.
»Vielleicht wird die Angst vor dem Tod seine Pläne ändern«, meinte Stephen düster. »Wir haben für kurze Zeit einen brüchigen Frieden gewahrt. Ich möchte ihn nicht schon wieder beendet sehen, vor allem nicht durch uns – und nicht ohne Not.«
»Sogar der König ist gegen
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