Die Geliebte des Normannen
er versteifte sich vor Anspannung und Zorn.
Mary fühlte sich überwältigt. Emotionen, die sie eigentlich unterdrücken wollte, drohten sie zu überrollen. Sie war tatsächlich mit Stephen de Warenne verlobt; in einigen Wochen würde sie seine Gemahlin sein, und in einer Minute würde sie als »Gast« des Königs den Tower betreten. Lieber, guter, gnädiger Jesus, ihr Vater hatte nicht einmal abgewartet, bis ihre Schwangerschaft feststand, bevor er sie seinem größten Feind auslieferte!
Mary musste die Augen schließen und tief durchatmen; sie fühlte sich kurz vor einer Ohnmacht. Sie merkte, dass sie Stephens Hand umklammerte.
Ihr kam der Gedanke, dass er trotz des Verrats in dieser sturmdurchwühlten See ihr Anker war. Wütend auf sich selbst, auf ihn, auf alles und jeden, entriss sie ihm ihre Hand.
Ein Mann trat aus den sie umstellenden Rittern hervor, ein gewinnendes Lächeln auf den kühnen Gesichtszügen.
»Ich bin gekommen, um euch im Namen meines Bruders, des Königs, zu begrüßen, Stephen.«
Stephen legte einen Arm um Marys verspannte Schultern und wandte sich Prinz Henry zu.
»Ich fühle mich geehrt, Henry.«
Henry grinste ihn an, und dann schwenkte sein Blick auf Mary. Sie starrte ihn an, als sei er ein Ungeheuer mit zwei Köpfen.
Auch den Prinzen hatte sie bereits in Abernathy gesehen, und da er dem Königshaus angehörte, zumindest solange es in seine Pläne passte, wusste sie von ihm. Zudem eilte ihm der Ruf eines Frauenhelden voraus. Es hieß, er habe bereits mehr als ein halbes Dutzend uneheliche Kinder in die Welt gesetzt.
Doch der Blick, mit dem er sie musterte, war weniger lustvoll als vielmehr durchdringend. Mary war jedoch zu aufgelöst, um das wirklich zu bemerken. Er ging ihr einfach nur auf die Nerven, und sie errötete.
»Willkommen im Tower, Prinzessin«, begrüßte er sie liebenswürdig.
Mary wusste, was sich gehörte, und so ungern sie es tat, machte sie dennoch einen Knicks. Stephen musste seinen Arm von ihren Schultern nehmen.
Henry half ihr auf und ließ sich auffallend viel Zeit, seine Hände wieder von den ihren zu lösen.
»Eine wahre Schönheit, schöner sogar als Adele Beaufort.« Er war amüsiert und dachte, sie wüsste nicht, wen er meinte.
Aber Mary hatte diesen verhassten Namen nicht vergessen. Sie glaubte dem Prinzen nicht wirklich und fragte sich, ob sich die Erbin von Essex vielleicht sogar bei Hofe befand.
Stephen ergriff stumm ihren Arm und hakte ihn in einer besitzergreifenden Geste unter den seinen, ohne seinen harten Blick von Prinz Henry abzuwenden.
Der zog eine Braue hoch und lachte.
»Keine Angst. Sind wir nicht seit Jahren Verbündete? Ich werde mich beherrschen, lieber Stephen.«
Stephens Lächeln war eisig.
»Dann hast du dich seit unserem letzten Treffen verändert, mon ami. Du fandest schon immer Vergnügen daran, in fremden Gärten zu wildern, wenn ich mich recht erinnere.«
Henry zuckte die Achseln. »Nie ohne Einladung«, erwiderte er. »Nie ohne eine Einladung.«
»Hier wird es keine Einladung geben«, erwiderte Stephen ohne Groll. Er sprach, als würde er eine Tatsache darlegen.
»Wirst du langsam sanftmütig?« Henry schien schon wieder amüsiert zu sein, und skeptisch dazu. Als Stephen lediglich lächelte, zuckte er mit den Schultern.
»Komm«, sagte er mit einer ausholenden Geste, »es ist kalt, und deine Braut zittert. Wegen der Kälte, natürlich.«
»Natürlich«, entgegnete Stephen und legte einen Arm eng um Mary.
Mary konnte kaum atmen. Sie spürte eine feste Freundschaft zwischen den Männern, aber auch eine seltsame Rivalität. Die beiden stritten sich doch sicher nicht ihretwegen!
Sie wimmerte fast, und ihre Schläfen begannen schmerzhaft zu hämmern. Am liebsten hätte sie sich in ein Bett gelegt und die Decke über sich gezogen.
Sie stiegen die hölzerne Treppe des Wohnturms hinauf und betraten den Saal im ersten Obergeschoss. Offiziell war 'dies der Raum des Burgvogts; nun war er fast überfüllt mit schmuckbehangenen Damen in ihren feinsten Gewändern, mit Edelleuten in farbenprächtigen Tuniken und Hosen und anderen Männern, die so schmutzig waren, als seien sie tagelang geritten. Durch die vielen Menschen war es heiß und die Luft zum Ersticken; die kühle Abendluft und die sich ankündigende Frische des Herbstes waren nicht spürbar. Und dann dieser Lärm! Mary hätte schreien müssen, um sich bei Stephen Gehör zu verschaffen, wenn sie mit ihm hätte sprechen wollen. Er musste sich derweil mit den Ellbogen
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