Die Geliebte des Trompeters
wenn ja – was hätte sie ihm sagen, was ihn fragen sollen? Das war ja ohnehin ihr Problem, das Reden. Sie strich mit der linken Hand am Zaun entlang, als sie langsam weiterging. Sie musste hineinkommen, irgendwie. Sie musste sehen, wohin Chet alle paar Tage verschwand, manchmal spätabends, manchmal am frühen Morgen. Was tat er da Geheimnisvolles? Um das Eingangsgebäude waren Sperren gebaut, sie war gezwungen, einen weiten Bogen zu machen, und verlor sich beinahe im Gelände. Richtig: Hier, auf der Westseite, war Tempelhof nicht weitergebaut worden, hier, an einem Ende der Rollbahn, klaffte eine riesige Baugrube, aus der sich Fundamente |181| erhoben. Ein Anschluss-Stück zum zentralen Gebäude war bis in den ersten Stock gebaut, die Stahlträger ragten sinnlos in die Höhe. Trümmer lagen herum, Bauteile. Tempelhof machte, dass man sich winzig fühlte, gleichgültig, wo man sich gerade befand. Ricky schüttelte die Angst ab, die sich auf sie legen wollte wie der Nieselregen, der einsetzte. Es war kühl. Der Sommer ging vorzeitig zu Ende. Sie lief weiter, sich vorsichtig umschauend. Hier endete der Zaun im Nichts.
Eine halbe Stunde später stand Ricky mit klopfendem Herzen in einem Treppenhaus, das größer und gewaltiger war als alles, was sie bisher gesehen hatte. Die Wände waren unverputzt, so dass die Skelettbauweise gut zu erkennen war: Zwischen Stahlbetonpfeilern von gigantischer Höhe gemauerte Wände aus Ziegeln. Sieben Stockwerke hoch. Ricky schlich vorwärts. Sie wusste selbst nicht so recht, wohin sie wollte. Irgendwo mussten Büros sein, Arbeitsplätze für die Amerikaner, die zum Teil hier untergebracht waren. Hitler hatte Tempelhof als autarkes System geplant – den Besatzungskräften nutzte das jetzt.
Über einen Quergang gelangte Ricky weiter. Hier war sogar ein Fahrstuhl! Ricky konnte es nicht lassen: Sie drückte auf einen Knopf, der Fahrstuhl kam, und sie stieg ein. Plötzlich Stimmen – und mit der Panik des ertappten Kindes drückte Ricky auf irgendeinen Knopf und hätte nicht einmal sagen können, in welche Richtung sich der Fahrstuhl bewegte. Drei. Sie hatte eine Drei gedrückt. Allerdings: eine Minus-Drei. Ricky öffnete die Fahrstuhltür im dritten Untergeschoss. Ein Brummen hörte sie, tief und bedrohlich. Maschinengeräusche. Ein Scheppern. Immerhin brannte überall Licht. Und warm war es. Unerträglich warm. Eben noch war ihr kalt gewesen, jetzt begann sie, unerträglich zu schwitzen. Sie öffnete eine Metalltür, vorsichtig, sah sich um, trat ein, ließ die Tür los, die hinter ihr ins Schloß fiel. Gefangen! Von innen gab es |182| nur einen Knauf, keine Klinke. Und dieser Knauf ließ sich nicht bewegen. Vergebens redete sich Ricky zu, dass sie ja sowieso nicht gewusst hätte, wohin.
Ihr Herz schlug wie wild. Allmählich begriff sie, wohin sie geraten war: in ein Labyrinth aus vielen tausend Quadratmetern ausgefuchster militärischer Architektur, gebaut von einem pedantischen Genie, das alles auf Funktionalität, Monumentalität und Sicherheit ausgerichtet hatte. Und diese Sicherheit würde ihr Verderben sein. Ricky irrte durch die Gänge. Sie versuche sich zu merken, wann sie abbog und in welche Richtung sie ging. War sie hier nicht schon einmal vorbeigekommen? Hatte sie diesen Verschlag nicht eben gesehen? Die Symmetrie der Anlage machte die Orientierung unmöglich. Jeder Gang wie der vorherige. Jeder Flur ein Spiegel des gegenüberliegenden. Lange Gänge. Schmale Flure. Hohe Decken. Grelles Licht. Große Wärme. Sie ging schneller und schneller. Sie schwitzte. An einer der Drahttüren, die die Gänge voneinander trennten, gab sie auf. Es war sinnlos. Sie hatte schon vor vier, fünf, sieben solcher Türen gestanden. Sie geöffnet und geschlossen. Nur, um weitere Gänge entlangzuirren und weitere Türen zu öffnen. Sie legte ihr Hand in das Gitter. Sie hielt inne. Sie hörte ihr Herz schlagen. Sie gab auf. Sie musste das hoffen, was sie am meisten fürchtete: dass man sie entdeckte. Es war dasselbe Gefühl wie damals im Keller, ehe die Russen kamen. Ricky hockte sich auf den Boden und schlang die Arme um die Knie.
Für eine Arrestzelle war der Raum ganz komfortabel: Bett, Stuhl, selbst ein Radio hatte der Sergeant dem Jungen gelassen. Und natürlich die Trompete.
Dem kann man eher das Essen wegnehmen als seine Musik!, hatte er zum Wachsoldaten gesagt. Nicht aus den Augen lassen und keine Gespräche!, fügte er scharf hinzu, als er sah, |183| wie sich der Soldat über die
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