Die Geliehene Zeit
Wolken schien. Allem Anschein nach zog ein Sturm auf.
Als Jamie zu ihr auf den Treppenabsatz trat, hielt Mary ihn an seinem Plaid fest.
»Psst!« flüsterte sie. »Da kommt jemand!«
Tatsächlich näherten sich von unten leise Schritte, und der matte Lichtkegel einer Kerze fiel auf die Wände. Mary und ich sahen uns hastig um, aber hier konnten wir uns nirgends verstekken. Wir befanden uns auf einer Hintertreppe für die Dienstboten, und auf den kahlen Absätzen gab es weder Möbel noch Wandbehänge.
Jamie seufzte resigniert und bedeutete Mary und mir, in den
Korridor zurückzukehren, aus dem wir gekommen waren. Dann postierte er sich mit gezücktem Dolch in einer schattigen Ecke auf dem Treppenabsatz.
Von bangen Befürchtungen geplagt, hielt Mary meine Hand umklammert. Jamie trug zwar eine Pistole bei sich, aber es war klar, daß er sie im Haus nicht benutzen konnte - und das würde auch ein Lakai erkennen. Also mußte Jamie auf den Dolch zurückgreifen. Mein Magen zog sich zusammen vor Mitleid mit dem unseligen Diener, der im Begriff war, einem knapp zwei Zentner schweren Schotten ins Messer zu laufen.
Im Geiste machte ich eine Bestandsaufnahme meiner Kleidung und kam gerade zu dem Schluß, daß ich auf einen Unterrock verzichten konnte, falls Fesseln benötigt wurden, als der gebeugte Kopf des Kerzenträgers in Sicht kam. Das dunkle Haar war in der Mitte gescheitelt und mit einer ekelerregend süßlichen Pomade geglättet - ein Duft, der sofort die Erinnerung an eine düstere Pariser Straße und schmale, grausame Lippen unter einer Maske heraufbeschwor.
Danton hörte mein entsetztes Keuchen und blickte erschrocken auf. Im nächsten Augenblick wurde er am Hals gepackt und so heftig gegen die Wand gestoßen, daß seine Kerze in hohem Bogen davonflog.
Auch Mary hatte ihn gesehen.
»Das ist er!« rief sie. Vor Schreck vergaß sie zu stottern und wurde gefährlich laut. »Der Mann in Paris!«
Mit seinem muskulösen Unterarm drückte Jamie den zappelnden Kammerdiener gegen die Wand. Im wechselnden Licht des Mondes, der immer wieder zwischen Wolkenfetzen hervorlugte, war das Gesicht des Mannes leichenblaß. Es wurde noch etwas blasser, als Jamie ihm seine Klinge an die Kehle setzte.
Ich trat auf den Treppenabsatz. In diesem Augenblick wußte ich weder, was Jamie vorhatte, noch war ich mir im klaren darüber, was ich von ihm erwartete. Danton gab ein ersticktes Stöhnen von sich, als er mich sah, und versuchte vergeblich, sich zu bekreuzigen.
»La Dame Blanche!« flüsterte er mit entsetztem Blick.
Jamie packte den Mann grob an den Haaren und schlug seinen Kopf gegen die hölzerne Wandverkleidung.
»Hätte ich Zeit, mo garhe , würdest du langsam sterben«, sagte er leise, doch seine ruhige Stimme entbehrte nicht der Überzeugungskraft.
»Sieh es als Gnade Gottes an, daß ich in Eile bin.« Er zerrte Dantons Kopf noch weiter nach hinten, so daß ich seinen krampfhaft schluckenden Adamsapfel sah. Angsterfüllt starrte er mich an.
»Du nennst sie ›La Darne Blance«‹, stieß Jamie hervor. »Ich nenne sie meine Frau. So soll denn ihr Gesicht das letzte sein, was du in deinem Leben erblickst!«
Jamie stieß Danton das Messer mit solcher Heftigkeit in die Kehle, daß er vor Anstrengung aufstöhnte. Ein dunkler Blutschwall ergoß sich über sein Hemd. Der Geruch des jähen Todes erfüllte das Treppenhaus, während der Mann mit einem nicht enden wollenden Gurgeln in sich zusammensank.
Ich kam wieder zu mir, als ich hörte, wie Mary sich hinter mir auf dem Korridor erbrach. Mein erster klarer Gedanke war, daß die Dienstboten am nächsten Morgen eine fürchterliche Bescherung aufwischen mußten. Mein zweiter Gedanke galt Jamie. Im huschenden Mondlicht sah ich sein blutbesudeltes Gesicht und die dunklen Tropfen auf seinem Haar. Er atmete schwer und machte den Eindruck, als wäre ihm auch schlecht.
Als ich mich zu Mary umdrehte, sah ich weit hinten im Korridor einen Lichtschimmer, der durch eine sich öffnende Tür fiel. Offenbar wollte jemand nachsehen, woher der Lärm rührte. Ich nahm den Saum von Marys Morgenrock, fuhr ihr damit hastig über den Mund, packte sie am Arm und zog sie auf den Treppenabsatz.
»Komm schon!« sagte ich. »Wir müssen hier raus!« Jamie, der wie benommen Dantons Leichnam betrachtete, schüttelte sich unvermittelt, kam wieder zu sich und wandte sich zur Treppe.
Offenbar wußte er den Weg, denn er führte uns ohne Zögern durch die dunklen Flure. Schwer atmend stolperte Mary neben
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