Die Geliehene Zeit
ausgebreitet wie die Gräser und Bäume eines Waldes, die Ödland eroberten.
Es war ein lebhaftes, magisches und fremdartiges Blau, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Doch es erinnerte mich an die Erzählungen eines alten Soldaten, den ich im Lazarett gepflegt hatte.
»Wir nennen ihn Fichtenspargel« hatte er gesagt. »Blau, leuchtendblau. Den findet man nur auf dem Schlachtfeld - an den Gefallenen. Ich habe mich immer gefragt, wo er sich aufhält, wenn es keinen Krieg gibt.«
In der Luft vielleicht, wo die unsichtbaren Sporen darauf warten, bis ihre Stunde gekommen ist, dachte ich. Das Blau war intensiv, auffällig, leuchtend wie das Färberwaid, mit dem sich die Vorfahren dieses Mannes das Gesicht bemalt hatten, bevor sie in den Krieg zogen.
Ein Windstoß fuhr durch die Bäume und wirbelte die weichen Haare des Mannes auf, so daß sie plötzlich lebendig wirkten.
Hinter mir raschelten Blätter. Ich zuckte zusammen und erwachte aus der Trance, in die ich beim Betrachten des Leichnams verfallen war.
Jamie trat neben mich und sah den Soldaten an. Schweigend nahm er mich am Ellenbogen und führte mich aus dem Gehölz.
Nachdem wir uns und die Pferde unbarmherzig zur Eile angetrieben hatten, trafen wir am Vormittag des 15. April am Culloden House ein. Auf den Landstraßen hatte reges Treiben geherrscht, aber der Hof lag seltsam verlassen da.
Jamie sprang vom Pferd und reichte Murtagh die Zügel.
»Wartet einen Augenblick«, sagte er. »Ich glaube, hier stimmt was nicht.«
Murtagh blickte auf die offenstehende Stalltür und nickte. Fergus, der inzwischen auch vom Pferd gestiegen war, wollte sich Jamie anschließen, doch Murtagh hielt ihn mit einem knappen Befehl zurück.
Mit steifen Gliedern ließ ich mich vom Pferd gleiten und lief Jamie hinterher. Es herrschte wirklich eine eigenartige Stimmung, doch erst als ich ihm in den Stall folgte, erkannte ich, woran es lag: Es war zu still.
In dem stillen, düsteren Gebäude fehlten die Wärme von Tieren und der übliche Umtrieb. Dennoch war der Stall nicht ganz ohne Leben, denn hinten im Schatten regte sich eine dunkle Gestalt, die für eine Ratte oder einen Fuchs zu groß war.
»Wer ist da?« Jamie trat vor, um mich zu schützen. »Alec, bist du das?«
Langsam hob der Mann den Kopf, und sein Plaid rutschte zur Seite. Der Oberstallmeister von Burg Leoch hatte nur noch ein Auge; die leere Höhle, die nach einem Unfall vor vielen Jahren zurückgeblieben war, verbarg er unter einer schwarzen Klappe. Normalerweise hatte er keine Mühe, sich mit dem verbliebenen, funkelnden Auge bei Stallknechten und Pferden, Burschen und Reitern Respekt zu verschaffen.
Doch jetzt war Alec McMahon MacKenzies Auge matt wie Schiefer. Der mächtige, einst so kräftige Körper lag zusammengekrümmt auf dem Boden, und seine Wangen waren vor Hunger eingefallen.
Da Jamie wußte, daß der alte Mann bei feuchtem Wetter unter
Arthritis litt und ihm jede Bewegung Schmerzen bereitete, kniete er sich neben ihn.
»Was ist geschehen?« fragte er. »Wir sind gerade erst angekommen. Was ist hier los?«
Der alte Alec brauchte eine lange Zeit, um die Frage aufzunehmen und seine Antwort in Worte zu fassen. Vielleicht lag es an der Stille in dem leeren, schattigen Stall, daß seine Worte hohl klangen, als er sie endlich aussprach.
»Es ist alles fehlgeschlagen«, sagte er. »Vor zwei Nächten sind sie nach Nairn marschiert, und als sie gestern zurückkamen, waren sie auf der Flucht. Seine Hoheit hat befohlen, daß wir auf dem Cullodenmoor Stellung beziehen. Lord George ist schon dort, mit allen Soldaten, die er um sich scharen konnte.«
Als der Name Culloden fiel, konnte ich ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Jetzt war es soweit. Trotz all unserer Bemühungen war es Wirklichkeit geworden. Und wir steckten mittendrin.
Auch Jamie fuhr ein Schauer durch den Körper; die roten Haare auf seinem Unterarm hatten sich aufgestellt. Doch seine Stimme verriet nichts von der Angst, die er verspüren mußte.
»Aber die Soldaten sind viel zu schlecht versorgt, um zu kämpfen. Hat Lord George denn nicht eingesehen, daß sie erst einmal Ruhe und Verpflegung brauchen?«
Das Krächzen, das der alte Alec hören ließ, erinnerte nur entfernt an ein Lachen.
»Was Seine Lordschaft einsieht, spielt keine Rolle, mein Junge. Das Heer untersteht dem Kommando Seiner Hoheit. Und der hat nun einmal den Befehl gegeben, daß wir uns bei Culloden den Engländern stellen. Was die Verpflegung betrifft...« Die
Weitere Kostenlose Bücher