Die Geliehene Zeit
Liste, die ich wohl nie würde klären können.
Es verging eine lange Zeit, wie mir schien, bis ich endlich das Knarren der blanken Bodendielen auf der Treppe vor meinem Zufluchtsort hörte. Als ich die Tür öffnete, trat Jamie gerade auf den Absatz. Ein Blick auf sein Gesicht, und ich wußte Bescheid.
»Alec hatte recht«, sagte Jamie ohne Umschweife. Hunger und Zorn ließen seine Wangenknochen deutlich hervortreten. »Unsere Soldaten ziehen nach Culloden - soweit sie dazu in der Lage sind. Seit zwei Tagen haben sie weder gegessen noch geschlafen, und für die Kanone gibt es keine Geschosse. Aber sie ziehen weiter.« Übermannt
von seiner Wut, schlug er mit der Faust auf ein schwächliches Tischlein. Ein Stapel Messingteller, der neben anderem Hausrat darauf aufgetürmt war, ging scheppernd zu Boden.
In seinem Ärger griff Jamie nach seinem Dolch und rammte ihn mit aller Kraft in die Holzplatte, wo er zitternd steckenblieb.
»Auf dem Lande heißt es, wenn ein Mann Blut an seinem Dolch sieht, ist er dem Tod geweiht.« Scharf sog er den Atem ein. »Nun, jeder von uns sieht Blut an seinem Dolch - Kilmarnock, Lochiel und die anderen. Das hilft uns aber auch nicht weiter.«
Er stützte sich auf den Tisch, senkte den Kopf und starrte den Dolch an. Jamie wirkte viel zu groß für diese winzige Kammer, und er war so wütend und aufgebracht, daß zu befürchten stand, er würde jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Doch er richtete sich auf, ließ sich auf eine klapprige Bank fallen und vergrub den Kopf in den Händen.
»Jamie«, sagte ich und schluckte. Die nächsten Worte wollten mir nicht über die Lippen kommen, doch sie mußten gesagt werden. Schon vorher war mir klar gewesen, welche Nachrichten er bringen würde, und mir war eine, die letzte Möglichkeit eingefallen, die uns noch blieb. »Jamie, wir können noch etwas tun - wir haben noch eine Chance.«
Sein Kopf war gesenkt. Ohne mich anzusehen, schüttelte er den Kopf.
»Es gibt keinen Ausweg«, sagte er. »Der Prinz hat es sich in den Kopf gesetzt. Murray und Lochiel haben versucht, ihn umzustimmen. Desgleichen Balmerino und ich. Doch in diesem Augenblick beziehen unsere Männer Stellung auf dem Feld. Cumberland befindet sich auf dem Weg nach Drummossie. Es gibt keinen Ausweg.«
Das Heilen ist eine Kunst, die Macht mit sich bringt, und jeder Arzt, der sich auf den Gebrauch heilender Mittel versteht, kennt auch jene, die dem Körper Schaden zufügen. Ich hatte Colum das Zyankali gegeben, das er dann nicht mehr hatte nehmen können. Als man seinen Leichnam auf dem Bett fand, hatte ich das Gift wieder in meinen Besitz gebracht. Jetzt lag es in meinem Medizinkasten.
Mein Mund war so ausgetrocknet, daß ich kein Wort über die Lippen brachte. In meiner Feldflasche war noch ein Rest Wein, aber als ich ihn trank, schmeckte er bitter wie Galle.
»Doch, es gibt einen Ausweg«, erklärte ich. »Einen gibt es noch.«
Jamie saß reglos wie zuvor. Unser Ritt war anstrengend gewesen, und nach dem Gespräch mit Alec hatte sich zu seiner Erschöpfung noch Niedergeschlagenheit gesellt. Wir hatten Umwege gemacht, um zu seinen Männern zu stoßen, und einen elenden, zerlumpten Trupp vorgefunden. Und dann, zur Krönung des Ganzen, das Gespräch mit Charles.
»Aye?« fragte er.
Ich zögerte, doch mir blieb keine Wahl. Wir mußten die Möglichkeit in Erwägung ziehen, ganz gleich, ob Jamie - oder ich - sie in die Tat umsetzen könnten oder nicht.
»Alles hängt von Charles Stuart ab«, stotterte ich schließlich. »Wirklich alles. Die Schlacht, der Krieg - alles liegt in seiner Hand. Verstehst du?«
»Aye.« Endlich blickte Jamie zu mir auf.
»Wenn er tot wäre...«, flüsterte ich nach einer Weile.
Jamie hatte die Augen geschlossen, und alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen.
»Wenn er stirbt... jetzt, heute. Ohne Charles gibt es nichts, für das wir kämpfen müssen. Niemand, der die Armee nach Culloden schickt. Es würde nicht zur Schlacht kommen.«
Jamie schluckte schwer. Dann öffnete er die Augen und blickte mich entsetzt an.
»Herr im Himmel«, stammelte er. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Meine Hand schloß sich um den goldgefaßten Kristall an meiner Kette.
Vor der Schlacht von Falkirk hatten sie mich herbeigerufen, um den Prinzen zu untersuchen. O’Sullivan, Tullibardine und die anderen. Seine Hoheit war erkrankt - eine Indisposition, wie es hieß. Und so hatte ich Charles aufgesucht, ihn angewiesen, Brust und Arme zu entblößen, hatte ihm
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