Die Genesis-Affäre: Mind Control (German Edition)
dreiundvierzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Drei Jahre vor der Wende riskierte dieser einen Fluchtversuch über die Ostsee. Mit einem Surfbrett wollte er Richtung dänische Küste in die Freiheit segeln. Anfangs sah es für ihn auch recht gut aus, Windrichtung und Windstärke waren optimal und die See ruhig. Doch dann flaute der Wind ab, sodass er nicht mehr vorankam. Sein Verhängnis war, dass er die Hoheitsge wässer der DDR noch nicht verlassen hatte. Nachdem er mehrere Stunden auf dem Wasser dümpelte, wurde er schließlich von einem Patrouillenboot erwischt.
Es begann eine Zeit im Gefängnis von Hohenschönhausen, die er versuchte, aus seiner Erinnerung zu streichen. Bis heute war ihm dies auch ganz gut gelungen, bis ein schwarzer Geländewagen auf dem Parkplatz des Kaufhauses in Berlin-Hasenheide erschien, wo Talert als Detektiv hinter Ladendieben her war.
»Wir möchten Axel Talert sprechen«, sagte Ruschkow dem Pförtner am Personaleingang. Bereitwillig und ahnungslos wies dieser den Weg in die oberste Etage, wo die Verwaltung untergebracht war und auch Talerts Büro lag, von wo aus er über Monitore alle Verkaufsabteilungen überwachen konnte. Es war kein Traumjob, aber immer noch besser, als von Hartz-IV zu leben, war seine Meinung. Er machte das Beste daraus und war ziemlich erfolgreich, was sich positiv auf sein Prämienkonto auswirkte. Seine kleine Welt war in Ordnung, noch, denn das Unheil stand vor der Tür.
Als es an seiner Bürotür klopfte, bat Talert den Besucher ohne zu zögern herein. Für den Moment löste er sich von seinen Monitoren und sah zur Tür. Er erschrak, als er dem bulligen Jan Ruschkow ins Gesicht sah, den er in keiner guten Erinnerung hatte. Von einer Sekunde auf die andere erschien vor seinem geistigen Auge, was er eigentlich verdrängen wollte. In Sekunden spulte sein Gehirn alles wieder ab und er fühlte sich zurückversetzt in das Gefängnis, wo Ruschkow sein Peiniger war.
Ganz besonders erinnerte er sich an die wöchentlichen Befragungen. Er sah das Verhörzimmer förmlich vor sich und bildete sich sogar ein, den Geruch dieses Raumes in der Nase zu haben. Auf dem kalten Linoleumboden stand lediglich ein einfacher Schreibtisch, davor und dahinter ein ebenso einfacher Stuhl, wobei der von Jan Ruschkow wenigstens Armlehnen hatte. An der Wand hinter dem Schreibtisch, vom Häftling immer im Blick, hing ein eingerahmtes Foto von Erich Honecker. Talert war fest überzeugt, dass dieses Foto nun in Ruschkows Wohnung hing. Ansonsten waren die Wände nackt. Das vergitterte Fenster zum Innenhof des Gefängnisses ließ lediglich einen bedrückenden Blick auf den gegenüberliegenden Block zu. Kälte war eine umfassende Beschreibung für die Atmosphäre, die in diesem Raum herrschte.
Talert hatte aufgehört zu zählen, wie oft er in diesen erdrückenden Raum geführt wurde und dort den gefürchteten Verhörmethoden des Jan Ruschkow ausgeliefert war. Ein Spulen-Tonbandgerät und ein Telefon waren alles, was an Utensilien in diesem Raum zu finden gewesen waren. Auf dem Schreibtisch lag nur die Stasi-Akte, die Ruschkow ins Verhör stets mitbrachte. Talert lief es eiskalt den Rücken hinunter, als er genau diese Akte in Ruschkows Hand erkannte.
Talert erinnerte sich, dass Ruschkow gegen Ende eines jeden Verhöres unter die Tischplatte griff, woraufhin das Telefon läutete. Wie er erst viel später erfuhr, befand sich dort ein versteckter Knopf, mit dem das Telefonläuten ausgelöst werden konnte. Es rief also nie wirklich jemand an. Aber dieser vermeintliche Anruf übte einen ungeheuerlichen Druck aus.
Ruschkow tat so, als würde er telefonieren und natürlich ging es um Axel Talert, was er durch intensiven Blickkontakt deutlich machte. Außerdem nannte er während des fingierten Gesprächs Namen von Familienangehörigen. Viele Häftlinge ließen sich dadurch zermürben und als künftige inoffizielle Mitarbeiter anwerben. Bei Talert gelang diese Taktik nicht, wodurch in seiner Akte der Vermerk »Verweigert IM« eingetragen wurde. Für Jan Ruschkow war dies ein absolutes Vergehen, eine Verweigerung dem Staat gegenüber, eine persönliche Beleidigung seiner selbst. Talert bekam seine Standfestigkeit täglich zu spüren, bis zum Tag seiner vorzeitigen Entlassung nach Auflösung des DDR-Staates. Als er das Gefängnis in die Freiheit verließ, sah er sich vergeblich nach Jan Ruschkow um. Er hatte sich fest vorgenommen, ihm zum Abschied kräftig in den Hintern zu treten. Aber Jan
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