Die Genesis-Affäre: Mind Control (German Edition)
Ruschkow war von der Bildfläche verschwunden.
Im Zeitraffertempo sah Axel Talert den unheilvollen Film der Erinnerung vor seinem geistigen Auge abspulen.
Ruschkow knallte die Akte auf Talerts Schreibtisch, so, wie er es Hunderte Male im Verhörzimmer von Hohenschönhausen getan hatte. Talert sah sofort das verblasste Wappen der DDR auf dem Aktendeckel und seinen Namen.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte er entrüstet und zugleich verängstigt. Ihm war klar, dass Ruschkows plötzliches Auftauchen und diese Akte nichts Gutes bedeuten konnte.
Jan Ruschkow verstand es wie kein anderer, das Überraschungsmoment auszunutzen. Während Fromm in der Tür stehen blieb und den Korridor im Auge behielt, stellte sich Ruschkow unmittelbar neben Talert und drang somit in seine Intimsphäre ein, was ihn zusätzlich verunsicherte und Unbehagen einflößte. Ihm überkam die Kälte, die er aus dem Verhörzimmer kannte.
»Besser, Sie stellen keine Fragen«, sagte Ruschkow in einem Tonfall, an den Talert sich nur zu gut erinnerte. Gleichzeitig öffnete Ruschkow sein Jackett und zog es ein wenig auf, sodass Talert die Schusswaffe sehen konnte, die er in einem Schulterhalfter bei sich trug. Das machte die Sache kompliziert.
Ruschkow tippte mit dem Zeigefinger auf die Akte.
»Sie haben Ihre Strafe noch nicht abgesessen«, sagte er voller Überzeugung und einem hämischen Grinsen.
»Das soll wohl ein Witz sein«, beschwerte sich Talert, »die DDR gibt es nicht mehr. Das haben doch selbst Sie mitbekommen, oder? Ich wurde damals offiziell entlassen, wie viele andere auch. Die Sache ist vorbei. Wir leben jetzt in der Bundesrepublik – Sie auch.«
»Für Sie mag die Sache vielleicht vorbei sein. Aber sie ist es nicht. Ich habe vor ein paar Monaten Margot Honecker in Chile besucht. Wir sind einer Meinung: Die DDR lebt.«
»Sie sind doch krank. Diesen Schwachsinn, den die Honecker in Chile verbreitet, habe ich im Fernsehen gesehen. Lächerlich.«
Jan Ruschkow war nicht in Stimmung, eine Diskussion über Sinn oder Unsinn eines auflebenden DDR-Gedankens zu führen. Erst recht nicht mit einem Menschen, der damals sein Land verraten hatte.
»Es kommt jemand«, meldete Fromm plötzlich und trat einen Schritt ins Büro, um nicht aufzufallen.
»Sie machen keinen Mist, verstanden!«, befahl Ruschkow und unterstrich seine Worte durch unmissverständliches Abtasten seines Jacketts. Talert war sich sicher, dass Ruschkow von seiner Schusswaffe Gebrauch machen würde, falls er in Bedrängnis geriete. Er war sich nur nicht im Klaren darüber, ob er es nicht generell tun würde.
Waren dies seine letzten Minuten? Wenn es stimmte, dass in solchen Momenten das ganze Leben vor dem geistigen Auge abgespult wird, dann war es so. Wie eine Eingebung besann er sich ganz besonders seiner Jugendliebe, mit der er zusammen in der FDJ war. Sie war 1989 zusammen mit ihren Eltern eine von Tausenden Flüchtlingen, die es in die Prager Botschaft geschafft hatten. Talert wusste, dass sie im Westen ihren Traum verwirklicht hatte und Journalistin beim Fernsehen geworden war. Ihr Name: Lena Jansen.
In diese Revue der Vergangenheit platzte ein Kollege von Talert, der sich an Fromm vorbei Zutritt in sein Büro verschaffte.
»Entschuldige, ich wusste nicht, dass du Kundschaft hast. Ich wollte dir nur den Bericht bringen, auf den du wartest«, sagte er, als er Talerts Büro betrat.
Axel Talert sah sein Chance. Blitzschnell überlegte er sich eine Strategie und hoffte, sein Kollege würde es verstehen und entsprechend handeln.
»Die Herren wollten einen Kassettenrekorder stehlen«, sagte Talert und betonte das Wort Kassettenrekorder. Im Zeitalter der digitalen Technik gab es solche Geräte längst nicht mehr und er hoffte, es würde seinem Kollegen auffallen.
»Sorry, ich wollte dich nicht stören«, sagte er und verschwand wieder. Er hatte nicht erkannt, dass Talert in Gefahr war.
Er war schon in der Tür, als Talert Mut fasste und ihm zurief: »Kannst du mir einen Gefallen tun und den Termin mit Frau Jansen absagen? Ich schaffe es heute nicht mehr in die Drangsalstraße.«
Der Kollege blieb in der Tür stehen und sah sich um. Als er den Straßennamen hörte, stutzte er. Talert warf ihm einen Blick zu, mit dem er sagen wollte: Hast du es endlich kapiert? Er hatte. Dumm war nur, dass auch Ruschkow den Namen Jansen kannte, jedoch mit der Adresse nichts anzufangen wusste und die Namensgleichheit dadurch für einen Zufall hielt. Diesen Vorsprung musste Talert nutzen
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