Die Geometrie der Wolken
Fort Matilda streckten Kinder ihre Köpfe hervor und riefen dem vorbeifahrenden Zug Unflätigkeiten zu.
In Greenock waren die Mauern von roten Flechten bedeckt.
In Port Glasgow war ein Fabrikschornstein zu sehen.
Dann folgten Lagerhäuser mit eingeworfenen Fensterscheiben und der grausame, gleichgültige Clyde, jetzt bei Niedrigwasser eine bedrückende Weite von geriffeltem Schlamm, eine Schleim- und Seetanglagune, die scheinbar nicht mal der ganze Himmelschor zu alter Schönheit zurücksingen konnte. In Wirklichkeit aber brauchte es nichts als Wasser - fließende Bächlein, die sich über die isobarenartigen Schlammwellen vorarbeiteten, reinigendes, läuterndes Wasser, Wasser, das vom Meer hereinkam.
Später - im Zug nach Süden von Glasgow nach London, während meine Gedanken im Laufe der Stunden mit dem Schaukeln des Waggons kamen und gingen - verstand ich endlich die Ausmaße dessen, was ich getan hatte. Jemand war gestorben. Ein
Mensch
war gestorben. Wallace Ryman war gestorben. Die Polizei hatte mich vielleicht laufenlassen, aber es blieb die moralische Schuld, die sich, wenn auch nur innerlich, auf das Ausmaß der Folgen und auf meine Absichten konzentrierte.
Die Folgen - die konnte man doch unmöglich ausloten. Sie aufzeichnen, rückwärts wie vorwärts durch Raum und Zeit wie ein Gewitter. Doch ich war
wirklich
dumm gewesen, ich
hätte
besser aufpassen sollen, ich
hätte
mir überlegen sollen, was passieren konnte.
Ich dachte über die verschiedenen Möglichkeiten nach, wie ich es alles Sir Peter erklären sollte. Eigentlich hätte ich mir wohl lieber Gedanken darüber machen sollen, wie ich es Gill erklären konnte. Aber es ist nun mal so, dass der menschliche Verstand gerne vor seinen wahren Pflichten flieht - immer einen Ausweg sucht, ein Versteck.
Als ich über meine Absichten nachdachte, merkte ich, dass ich sie nicht genau beurteilen konnte. Ich? Meine? Wem wollte ich eigentlich etwas vormachen? Ich war so aufgewühlt, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was »ich« war, was »ich« bedeutete.
Ich wusste es nicht. Ich wusste es einfach nicht. Selbst heute weiß ich nicht, wer ich bin.
In dieser Unklarheit über mich selbst hörte ich die Stimme des Propheten, der aus dem Stegreif über die Natur des Wirbels dozierte.
Eine genaue Definition ist schwierig: Eine begrenzte Zeitlang behält er seine Identität, während er sich im Fluid bewegt, das ihn umgibt - bis er irgendwann zu etwas anderem wird.
Genau so fühlte ich mich dort im Zug - als würde meine Seele selbst verwässert vom Fluid des Lebens, das sie umgibt, vom Wirbel des
Kizunguzungu,
der uns immer begleitet.
Draußen, in einer der vorbeirasenden Städte Nordenglands, brannten auf zwei Türmen Flammen, deren Strahlen in das schwindende Tageslicht schnitten. Wahrscheinlich Munitionsfabriken. Wegen der Verdunkelungspflicht würden die Flammen bald gelöscht werden, denn die Abenddämmerung stahl den Rest des Tages und nahm ein kleines Stück nicht nur meines, sondern des Lebens jedes Mannes und jeder Frau als ihren Zehnten.
Eine oder zwei Stunden später kamen wir ächzend und stockend zum Stillstand, während ein anderer Zug uns überholte. Jetzt war es stockdunkel. Der Waggon vibrierte und knarzte. Die Passagiere des anderen Zuges rasten in ihren erleuchteten Fenstern vorbei. Unser Waggon bebte seitwärts, als hätte ihn jemand mit einem Stück Schiene geschlagen, das er vom Nebengleis aufgehoben hatte. Die Lok änderte ihren Rhythmus und mit einem hydraulischen Zischen und einem kreischenden Ruck setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
Während der restlichen Reise nahm ich mir einiges vor, was heute unangemessen wirkt. Allerlei Gründe mochten einen (so betrachtete ich die Angelegenheit) in die Ecke des eigenen ärmlichen Ackers treiben, wie an diesem Ort, den ich in Kilmun gefunden hatte, und dazu bringen, vor dem Flugzeug die Ballons mit den tödlichen Schweifen aufsteigen zu lassen. Doch die Gründe sind mehr oder weniger unerheblich. Die wirkliche Moralfrage ist die, wie sehr man sich in seinem Joch windet. Zu welchem Grad man - ungeachtet des historischen Antriebs - einen speziellen Weg beschreitet, den man wirklich seinen eigenen nennen kann.
Ja (sagte ich mir), gewiss lag der Schlüssel nun in der Ehrlichkeit über den Grund der Tat. Ich musste mir eingestehen, dass ich einfach nur das Abenteuer gesucht und nur deshalb dem Flugzeug die Falle gestellt hatte. Aber das konnte ich vor Sir Peter natürlich nicht
Weitere Kostenlose Bücher