Die geraubte Braut
sie zum Himmel emporblickte wie immer, ehe sie den Pfeil losschnellen ließ.
Und wie immer spürte er, dass ihre Entschlossenheit ihm wider Willen Bewunderung abnötigte. Wenn es auf diese allein ankäme, würde sie es schaffen. Das Weidenholz war stark, viel stärker als jeder Bogen, den sie je benutzt hatte. Das Spannen fiel ihr schwer. Nun aber schaffte sie es mit scheinbarer Leichtigkeit.
Als sie den Bogen losließ, ertönte aufgeregtes Gekreische vom Weg her, der zum Ufer führte. Der Pfeil verfehlte sein Ziel beschämend weit und landete auf dem Fluss, wo er auf dem Eis dahin schlitterte.
»Wir holen ihn!« Noch immer schreiend kamen Toby und Luke auf dem Weg in Sicht. »Wir haben euch gesehen … wir haben euch gesehen«, riefen sie im Singsang, als sie vorbeirannten und übers Eis schlitterten, um den Pfeil zu holen. Es folgte ein kurzes Getümmel, als sie um den Besitz kämpften, dann rutschte Toby triumphierend auf dem Hinterteil zurück ans Ufer, seine Beute über dem Kopf schwenkend, während Luke heulend mitten auf der Eisfläche zurückblieb.
Will ging hin und holte ihn ans Ufer. »Ihr könnt nicht dabei sein, wenn wir üben«, schimpfte er.
»Wir stehen hinter euch«, protestierte Toby. »Weit hinten. Dort drüben.« Zur Demonstration sprang er ein Stück zurück.
»Das reicht nicht«, sagte Will bestimmt.
»Abgesehen von allem anderen habt ihr mir meinen Schuss verpatzt«, erklärte Portia und entnahm dem Köcher den nächsten Pfeil. »Wenn das noch einmal vorkommt, könnte ich danebenschießen und euch womöglich treffen. Was wäre dann mit euch?«
»Wären wir dann tot?« fragte Toby stirnrunzelnd.
»Auf jeden Fall verletzt«, sagte Portia. »Geht zurück ins Dorf, und wenn Will und ich hier fertig sind, hole ich euch, und wir laufen mit Juno, ein Stück.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Widerstrebend trollten sie sich, nicht ohne sich ständig umzublicken.
»Ich glaube, Eure Beinstellung ist falsch«, setzte Will schüchtern an. »Ihr müsst breiter dastehen.« Tiefe Röte breitete sich von seinem Nacken aus.
»So etwa?« Portia ging mit gespreizten Beinen in Stellung und legte den Pfeil an.
»Ja, aber die Schultern …« Will, der insgeheim seinen Vetter zum Teufel wünschte, rückte ihre Schultern mit glühendem Gesicht zurecht. »Versucht es jetzt.«
Diesmal traf der Pfeil schon in bedenklicher Ziel nähe die Scheibe. »Das war gut«, lobte Will und holte den Pfeil.
»Nicht gut genug«, knurrte Portia tonlos. »Verdammt will ich sein, wenn ich heute Schluss mache, ehe ich ins Schwarze getroffen habe.« Sie nahm den Pfeil und legte ihn von neuem an. »Sagt, was ich sonst noch falsch mache. Ihr müsst es wissen.«
»Ich glaube, es hängt auch davon ab, wie Ihr den Pfeil haltet«, erklärte er verlegen. »Ihr haltet ihn zu fest.« Hinter ihr stehend griff er nach vorne, um es ihr zu zeigen. Als sein Arm ihre Brüste streifte, zuckte er zurück, als hätte er sich verbrannt.
Portia drehte sich zu ihm um. »Will, könnt Ihr nicht vergessen, dass ich eine Frau bin?«
»Nicht so leicht«, sagte er. »Zumal Ihr Rufus' Bett teilt.«
»Ach.« Sie kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Könnt Ihr mich nicht so sehen wie die anderen Frauen, die ins Dorf kommen?«
Will starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Sie seufzte. »Vermutlich nicht. Also, sehen wir die Sache mal so: Als Rufus' Vetter seid Ihr für mich wie ein Bruder. Könnt Ihr mich nicht als Schwester sehen?«
»Ich könnte es versuchen«, stimmte Will düster zu. »Aber leicht ist es nicht. Ich hatte nie eine Schwester, und wenn ich eine gehabt hätte, wäre sie wohl nicht so gewesen wie Ihr.«
Portia gab es auf. Will würde sich mit der Zeit an sie gewöhnen.
Ihre Übungsstunden bei George waren insgesamt leichter. Für den alten Haudegen gab es nur die ihm übertragene Aufgabe. Sobald er gesehen hatte, dass es seiner Schülerin ernst war, unterwies er sie sachlich und gründlich wie alle anderen Rekruten. Es dauerte eine Weile, bis Portia sich daran gewöhnt hatte, einen Strohsack mit der Pike anzugreifen und sich vorzustellen, dass sie menschliches Fleisch durchstach. Von Natur aus nicht blutrünstig, fand sie Georges anatomische Erläuterungen, die ihr die wirksamsten Zielpunkte vor Augen führen sollten, allzu drastisch.
Sie beruhigte sich damit, dass es ja nur zur Übung war. Sie musste Rufus und den anderen beweisen, dass sie dazu fähig war, und dass man sich in jeder Situation auf sie verlassen
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