Die Gerechten
immer geliebt. Wie alle jungen Männer hatte er seinen eigenen Konservatismus mit Schrecken zur Kenntnis genommen. Aber kurz nach seiner Ankunft hatte er festgestellt, dass er eine große Zuneigung zu alten Gebäuden empfand – nein, mehr als das: Er brauchte sie. Das Englische in ihm war stärker, als er gedacht hatte; er brauchte das solide Gefühl alter Mauern und Steine. Er war aufgewachsen in einem Land, wo selbst das unbedeutendste Dorf eine Kirche hatte, die sechs-, sieben- oder achthundert Jahre alt war. Während das alles ihn umgab, bemerkte er es kaum. Aber hier, in einem Land, das noch so neu und ungeformt war, wurde ihm durch das Fehlen alter Gebäude mulmig wie einem Matrosen auf einem schwankenden Schiff.
In New York war es anders. Wie in Boston oder Philadelphia gab es hier genug ausgereiftes Gemäuer, um ihn zu beruhigen. Und die Bibliothek war ein perfektes Beispiel dafür: Das Gebäude sah aus, als habe man es aus London oder Oxford hierher nach Manhattan verpflanzt.
Beim Betreten der Bibliothek hatte Wills Telefon wieder vibriert. Die neue Nachricht lautete: 3 times I kiss the page. 3-mal küsse ich die Seite. Offensichtlich war das die letzte Instruktion, die sie brauchten. Pardes Rimonim war der Titel des Buches, wie TC bereits herausgefunden hatte. Jetzt wurde ihnen gesagt, wo sie nachsehen sollten – vielleicht war es sogar die Seitenzahl.
TC rannte beinahe die zwei Stockwerke bis in die Jüdische Abteilung Dorot. Sie sagte der Bibliothekarin, welches Buch sie wünsche und hörte deren scharfen Atemzug. »Sie meinen das Pardes Rimonim-Manuskript von 1591?« TC und Will sahen sich an. »Es ist Ihnen doch bewusst, dass dies ein äußerst seltenes und kostbares Buch ist, nicht wahr? Nur der Bibliotheksleiter oder seine Vertretung können gestatten, das Manuskript aus dem Archiv zu holen. Könnten Sie morgen wieder kommen?«
»Ich muss es sofort sehen.«
»Ich fürchte, ein solches Buch bedarf einer besonderen Erlaubnis. Es tut mir Leid.«
»Wer ist die Frau dort? Die gerade Kaffee trinkt?« TC deutete zu einem der hinteren Bürozimmer.
»Das ist die stellvertretende Bibliotheksleiterin. Es ist ihre Mittagspause.«
»Hallo! Hallo!«
Will hätte sich vor Verlegenheit am liebsten gewunden. TC hatte die Bibliothekarin praktisch beiseite geschoben und lehnte nun über den Ausgabetresen, während sie laut rief und mit den Händen wedelte, um die Aufmerksamkeit der Frau im Büro zu erregen – und das hier, in der geheiligten Stille der Bibliothek. Gelehrte, die an den fünf Tischen des Lesesaals saßen, wandten die Köpfe, um den Grund für die Störung zu erkennen. Allein, um die Ruhe wieder herzustellen, erhob sich die Frau im Büro, setzte ihren Kaffeebecher ab und kam an den Tresen.
Es funktionierte. TC wurde aufgefordert, ihren Namen und Adresse in das Benutzerregister einzutragen, ein Formular auszufüllen und sich auszuweisen. Erkennbar verstimmt verschwand die Frau, um das Manuskript aus einer verschlossenen Vitrine in einem verschlossenen Archiv zu holen – zwanzig lange Minuten, in denen Will hin und her ging und die Gesichter der Forschenden um ihn herum anstarrte.
»Hier ist es«, sagte die Frau schließlich und kam an den Tisch, an dem sich Will und TC niedergelassen hatten. Sie überreichte ihnen das Buch nicht und legte es auch nicht auf den Tisch. Stattdessen bettete sie es auf keilförmige, schwarze Styroporblöcke, so dass das Buch nicht vollständig aufgeschlagen wurde.
TC zog ihr Notizbuch heraus und griff nach ihrem Kugelschreiber.
»Nur Bleistifte, bitte. Kugelschreiber dürfen nicht in die Nähe eines Bandes dieser Bedeutung.«
»Entschuldigung. Natürlich nur Bleistift. Haben Sie vielen Dank. Wir brauchen bestimmt nicht lang.«
»Oh, ich gehe nicht weg. Ich bleibe direkt neben diesem Buch stehen, bis es wieder in seiner Vitrine liëgt. Das sind die Regeln.«
TC blätterte langsam und bedächtig die Seiten um. Das Buch war ein Relikt einer längst vergangenen Zeit. Ein über vierhundert Jahre altes Manuskript aus Krakau, kostbar und schwer, in Handarbeit hergestellt. TC wagte kaum, es zu berühren.
Will setzte sich neben sie und betrachtete die neueste SMS. Im Bewusstsein, dass die Bibliothekarin sie beobachtete, flüsterte er: »Ist das was Religiöses – die Seite küssen?«
»Juden küssen ihr Gebetbuch, wenn sie es geschlossen haben – oder wenn es ihnen zu Boden fällt. Aber nicht dreimal. Und nicht auf spezielle Seiten.« TC sprach leise und ohne den
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