Die Gerechten
überlegte. Sie hatte zwei lange Kleider, und eins davon war besonders schön; er hatte es ihr zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt. Aber das war Abendkleidung.
»Moment«, sagte er. »Lass mich da hinten nachsehen.« War Beth inzwischen dazu gekommen, es wegzuwerfen? Vorgehabt hatte sie es. Es war ein langer Rock aus tristem dunklen Samt, und Will hatte sich erbarmungslos darüber lustig gemacht: Es sei »ein Fummel für Cello spielende alte Jungfern«. Sie tat empört, aber natürlich sah sie, was er meinte: Sie sah darin tatsächlich aus wie eine dieser silberhaarigen Cellistinnen, die man in jedem Orchester finden konnte. Aber der Rock war ihr ans Herz gewachsen, und zu Wills jetzt großer Erleichterung hing er immer noch im Schrank.
»Okay«, sagte TC und ging ins Bad. »Die müssen verschwinden.« Sie legte den Kopf schräg und nahm ihre Ohrringe ab. Dann schob sie das Gesicht näher an den Spiegel und begann, in einer komplizierten Operation den Diamanten an ihrem Nasenflügel zu entfernen, und schließlich drehte sie den Ring aus ihrem Bauchnabel. Sie legte das ganze Metall auf den Waschbeckenrand.
»Und jetzt kommt das Schwierigste.« Sie wühlte eine eben gekaufte Flasche Shampoo aus ihrer Tasche, ein speziell für den beabsichtigten Zweck hergestelltes Produkt. Sie drehte den Wasserhahn auf und legte sich ein Handtuch um die Schultern. Sie biss die Zähne zusammen, als stehe ihr eine scheußliche Strapaze bevor, und senkte den Kopf unter den Wasserstrahl.
Will sah zu, wie sie sich das Haar einschäumte und wusch. Es dauerte eine ganze Weile, aber die Mühe machte sich bezahlt. Das Wasser, das ins Becken lief, färbte sich bläulich-violett. Die Farbe löste sich, wirbelte im Kreis über das weiße Porzellan und verschwand im Abfluss. Fasziniert betrachtete Will das gefärbte Wasser. Es entfernte nicht nur eine Chemikalie aus TCs Haaren, es schien die letzten zehn Jahre ihres Lebens fortzuspülen.
Er ging hinaus, um selbst ein paar Sachen zusammenzusuchen. Wie hatte der Rabbi gesagt: »In ein paar Tagen wird alles klar werden.« Das war zwei Tage her. Vielleicht rückte die Wahrheit jetzt endlich näher. Wie würde sie aussehen? Was war diese große, »uralte« Geschichte, in die er und seine Frau hineingeraten waren? Und wenn er es wüsste, würde er sie dann zurückbekommen? Würde er sie wieder in den Armen halten? Vielleicht schon heute Abend?
»So. Was sagst du dazu?«
Will drehte sich um und sah eine völlig veränderte Frau. Ihr Haar war dunkelbraun, lang und glatt gebürstet im Stil der 90er. Sie trug solide schwarze Schuhe, einen langen schwarzen Rock und eine weiße Bluse. Sie hatte sich eine dicke Steppjacke von Beth ausgeborgt; unter anderen Umständen hätte sie vielleicht chic ausgesehen, aber jetzt wirkte sie nur praktisch. Hier in seinem Apartment stand eine Frau, die sich in nichts von all den jungen Frauen und Müttern unterschied, die er zwei Tage zuvor in Crown Heights gesehen hatte. Sie sah vom Scheitel bis zur Sohle aus wie Tova Chaya Lieberman.
»Ich bin so froh um die Schuhe. Gott sei Dank, sie passen mir, und nur darauf kommt es an …«
Will begriff erst nach ein paar Augenblicken, was sie da redete: Sie erprobte den Singsangton des vom Jiddischen geprägten Akzents einer New Yorker Chassidin. Er ging ihr mühelos über die Lippen, und Will fand ihn sofort überzeugend.
»Wow. Du klingst … anders.«
»Das ist die Musik meiner Jugend.« Jetzt klang sie wieder wie TC, aber in ihrer Stimme lag eine Wehmut, die er noch nie gehört hatte. Sie nahm sich zusammen und sagte: »Jetzt du.«
»Ich?«
»Ja, du. Wir gehen zusammen. Tova Chaya würde sich niemals mit irgendeinem schejgez sehen lassen. Du musst zu ihr passen. Also: schwarzer Anzug, weißes Hemd. Du kennst die Regeln.«
Gehorsam suchte Will das schlichteste Outfit heraus, das er finden konnte. Einen Nadelstreifenanzug und ein weißes Hemd mit dem Ralph-Lauren-Polospieler auf der Brust musste er im Schrank lassen. Schlicht, schlicht, schlicht.
Dann schaute er in den Spiegel und hoffte, seine Verwandlung würde so überzeugend sein wie TCs. Aber sein Gesicht verriet ihn. Er mochte für einen Amerikaner durchgehen, aber für einen Juden? Nein. Er hatte den Teint und die Knochenstruktur eines Angelsachsen, dessen Wurzeln in den Dörfern Englands lagen, nicht in der Steppe Russlands.
Aber das musste kein Problem sein. Unter den Gläubigen am Freitagabend hatte er Gesichter aus Hanoi und Helsinki gesehen. Man konnte
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