Die Gerechten
Lehrer zu. »Mrs. Mandelbaum?«, fragte sie, und ihre Stimme klang zurückhaltend und sanft.
»Haya Hindel Rachel, aleha hoscholo?n.«
»Es tut mir Leid. Hamakomjenachem oscha b’soch sche’ar aveley Zion v’Jeruschalajim.« Möge der Herr dich trösten unter allen, die da trauern um Zion und Jerusalem.
Will konnte nur zuhören und zuschauen, aber er verstand TCs Körpersprache gut genug, um zu wissen, dass sie dem alten Mann ihr Beileid aussprach.
»Rabbi Mandelbaum, ich komme nach all den Jahren wieder her, weil es um Leben und Tod geht. Ich glaube, es besteht Gefahr für die gesamte Schöpfung.« Dann stockte sie und erinnerte sich. »Das ist mein Freund William Monroe.«
Der Rabbi zog kaum merklich die Braue hoch, als wolle er sagen: »Halte mich nicht für naiv, junge Dame. Ich weiß, wie es in der Welt zugeht. Ich weiß, dass ein Mann namens William Monroe kein Jude ist, ganz gleich, wie er sich anzieht. Und ich weiß auch, dass das Wort ›Freund‹ mehrere Bedeutungen hat.«
»Seine Frau ist entfuhrt worden. Sie wird hier in Crown Heights gefangen gehalten. Will hat mit einem Rabbi gesprochen – ich nehme an, es war Rabbi Freilich.« Sie blickte kurz zu Will, der sie überrascht anstarrte: Warum hast du mir das nicht gesagt? Sie sprach weiter. »Er bestreitet nicht, sie entführt zu haben. Aber er hat nicht erklärt, warum.«
Mandelbaum wirkte kein bisschen schockiert. Er nickte nur und ermunterte TC fortzufahren.
»Wir haben eine ganze Reihe von Nachrichten über das Telefon bekommen. SMS-Nachrichten.« Sie sprach das Wort sorgfältig und deutlich aus, als könne es dem alten Rabbiner vielleicht unbekannt sein. Aber er hörte ungerührt weiter zu.
»Wir wissen nicht, von wem diese Nachrichten kommen. Aber anscheinend geben sie so etwas wie eine Erklärung für Ereignisse hier und anderswo. Ich weiß nicht genau, was sie bedeuten. Aber ich habe eine Ahnung. Und deshalb sind wir hier.«
»Fregt mich a schale.« Stell mir deine Frage.
»Rabbi Mandelbaum, können Sie Will erklären, was ein Zaddik ist?«
Zum ersten Mal zeigte der Rabbiner eine Regung. Er sah TC verwundert an, als frage er sich, worauf er sich hier einlasse.
»Tova Chaya, du weißt genau, was ein Zaddik ist. Wir haben es zusammen gelernt. Bist du dafür zurückgekommen?«
»Ich will, dass er es von Ihnen hört. Sagen Sie es ihm?«
Der Rabbiner starrte TC an, als wolle er ihre Motive ergründen. Schließlich wandte er sich zögernd an Will und begann: »Mr. Monroe, ein Zaddik ist ein gerechter Mann. Die Wurzel des Wortes ist tzedek, und das bedeutet Gerechtigkeit. Ein Zaddik ist nicht einfach weise oder gelehrt. Dafür haben wir andere Wörter. Ein Zaddik ist ein Mann von ganz besonderer Weisheit. Er verkörpert die Gerechtigkeit selbst. Das englische Wort ›gerecht‹ kommt dem am nächsten.«
Will hatte eine solche Stimme noch nie gehört. Der Rabbi, der ihn so gewalttätig verhört hatte – und der, wie er jetzt erfuhr, Freilich hieß –, hatte mit einer ungewöhnlichen Intonation gesprochen, einem musikalischen Auf und Ab, aber es war immer noch ein erkennbar amerikanischer Tonfall gewesen. Das hier klang anders. Nicht deutsch, nicht osteuropäisch, sondern wie eine Mischung aus beidem. War es der Akzent Mitteleuropas? Oder war es eher die Stimme eines Ortes, den es nicht mehr gab – die Stimme des jüdischen Europas? In dieser Stimme erkannte Will die Bilder, die er in den Geschichtsbüchern über den Zweiten Weltkrieg gesehen hatte: die Juden aus Polen und Ungarn und Russland, dunkle Augen, die ihn aus Schwarzweißfotos anschauten, Menschen an der Schwelle eines schrecklichen Schicksals, das sie nicht kannten. Er hörte die verschmitzt klagenden Klarinetten der Klezmer-Musik, die er gelegentlich im New Yorker Radio mitbekommen hatte. In der Stimme dieses einen Mannes hörte Will eine ganze verlorene Kultur.
Er kehrte in die Gegenwart zurück und konzentrierte sich entschlossen auf das, was der Rabbiner sagte.
»Unsere Überlieferung kennt zwei Arten von Zaddikim – die, die man kennt, und die, die im Verborgenen sind. Die Verborgenen heißen nistarim. Sie stehen auf einer höheren Ebene als die, deren Heiligkeit öffentlich bekannt ist. Sie sind gerecht, aber sie suchen weder Ansehen noch Ruhm. Sie haben nichts von dem Dünkel, den das Licht der Öffentlichkeit mit sich bringt. Selbst ihre nächsten Nachbarn wissen nichts von ihrer wahren Natur. Oft sind sie arm. Tova Chaya wird sich an die Märchen erinnern, die
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