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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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Menschenleben Mr. Curtis gerettet hat. Manche werden es einen Skandal nennen, aber für mich waren es die Taten eines wahrhaft gerechten Mannes.«

44
    SONNTAG, 20.16 UHR, CROWN HEIGHTS, BROOKLYN
    TC wollte nicht riskieren, vorher anzurufen. Sie befürchtete, Rabbi Mandelbaum könnte beim Klang einer Stimme aus der Vergangenheit zu sehr aus der Fassung geraten. Außerdem hatte sie Angst, er werde auf der Stelle ihre Eltern anrufen. Wahrscheinlich hatte ihn in all den Jahren sein Gewissen geplagt: Er hatte sich heimlich mit der jungen Tova Chaya verschworen, und man sah, was passiert war. Er musste sich selbst die Schuld geben, denn er hatte sie in ihrem Rebellieren ermutigt, statt es zu zügeln.
    Deshalb wollte sie lieber an seiner Haustür auftauchen und ihm keinen Ausweg lassen. Die Adresse kannte sie noch, und als sie sah, dass im Haus Licht brannte, ließ sie den Taxifahrer warten.
    »Sorry, Will. Ich brauche nur einen Moment.« Sie starrte aus dem Fenster, als könne sie sich nicht rühren. »Es ist fast zehn Jahre her. Ich war ein anderer Mensch.«
    »Lass dir Zeit.«
    Will starrte aus dem Wagenfenster auf die ungewöhnlich stillen Straßen. Kein anderes Auto weit und breit; niemand war zu sehen. Kein Laut war zu hören, bis auf das Autoradio, aus dem ein Song erklang. Zuerst hörte Will kaum hin, aber dann fiel ihm ein Satz des Liedtextes auf. Es war John Lennon, der erklärte, Gott sei eine Vorstellung, an der wir unseren Schmerz messen. Will hörte aufmerksam zu; der Song näherte sich dem Höhepunkt: »I don’t believe in magic … I don’t believe in bible … I don’t believe in Jesus … I don’t believe in Beatles. I just believe in me, Yoko and me, and that’s reality.«
    Er hatte den Song noch nie gehört – »Ich glaube nur an mich, Yoko und mich, und das ist die Wirklichkeit« aber sein Mund wurde trocken. Ihm war, als spräche Beth selbst zu ihm, als hätte sie es endlich irgendwie geschafft, aus ihrer Zelle eine Botschaft herauszuschmuggeln. Die Sehnsucht, die Will in diesem Moment nach seiner Frau empfand, schien alles in ihm zu erfassen.
    TC gab schließlich ein Zeichen, und sie bezahlten das Taxi und gingen auf das Haus zu. Will rückte seine Kappe zurecht. Zum x-ten Mal. TC klopfte an die Tür.
    Es dauerte ein Weilchen, aber Will hörte, dass sich im Haus etwas bewegte. Dann kamen langsam schlurfende Schritte zur Tür, und ein gebeugter, graubärtiger alter Mann öffnete ihnen. Er musste mindestens achtzig sein.
    »Rabbi Mandelbaum, ich bin Tova Chaya Lieberman. Ihre Schülerin. Ich bin wieder da.«
    Seine Augen sprachen zuerst; sie erstrahlten und wurden gleichzeitig feucht. Er schaute sie lange Zeit wortlos an. Dann nickte er sanft und trat beiseite, um seine Gäste eintreten zu lassen.
    Er ging ihnen voraus und hob den linken Arm, als sie an der Tür zum Esszimmer waren: Geht dort hinein. Er selbst ging weiter in die Küche.
    Der Geruch von alten Büchern war überwältigend: Das Zimmer war vom Boden bis zur Decke voll gestopft mit ledergebundenen, goldgeprägten Bänden, wie Will sie auch am Freitagabend im Verhörzimmer gesehen hatte. Heilige Texte. Die Platte des Esstischs war unsichtbar. Eine Tischdecke lag darauf, dann eine Plastikfolie und schließlich Dutzende von aufgeschlagenen Büchern. Genaues konnte man nicht erkennen; das Zimmer war von einer einzelnen, matten elektrischen Lampe erleuchtet. Aber schon jetzt sah Will: Kaum ein Wort in diesen Büchern war englisch.
    An den Wänden hingen keine Gemälde, sondern nur Fotos, ein Dutzend, vielleicht mehr, und alle zeigten denselben Mann: den Rebbe. Seit über zwei Jahren verstorben, schaute er hier aus allen möglichen Perspektiven ins Zimmer, manchmal lächelnd, manchmal mit erhobenem Arm, aber immer mit eindringlichem Blick. Ein Foto zeigte den Rebbe mit Rabbi Mandelbaum zusammen. Die andern sahen aus wie professionelle Atelierfotos, aufgezogen auf kitschige Tafeln aus imitiertem Holz. Sie erinnerten Will an die Souvenirs, die man in kleinen italienischen Dörfern kaufen konnte, Bilder des Lokalheiligen.
    Rabbi Mandelbaum kam herein. Er balancierte ein Tablett mit einem einzigen Glas Wasser.
    »Setzt euch, setzt euch«, sagte er und hielt Will das Tablett entgegen. Will war verwirrt. Warum bekam nur er etwas zu trinken? TC beugte sich zu ihm und flüsterte: »Jom Kippur hat angefangen. Heute Abend. Nichts essen, nichts trinken.«
    »Und warum gibt er mir Wasser?«
    »Weil er ein kluger Mann ist.«
    TC wandte sich ihrem alten

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