Die Gerechten
sie als Kind gelesen hat: von Zaddikim, die im Verborgenen lebten, als Handwerker, als Schneider oder Schuster. Sie waren oft arm und hatten bescheidene Berufe. In den Märchen sind es oft Schmiede oder Flickschuster. Hausmeister vielleicht. Und doch vollbringen diese Männer Taten von höchster Frömmigkeit. Heilige Taten.«
»Aber niemand weiß, wer sie sind?« Die Frage ging ihm ganz von allein über die Lippen.
»Ganz recht. Tatsächlich« – der Rabbiner lächelte – »wird der Zaddik oft alles Erdenkliche tun, um die Leute von seiner Spur abzubringen, sozusagen. Unsere Schriften sind voll von unglaublich paradoxen Geschichten: die heiligsten Männer finden sich da an den unheiligsten Orten. Das ist Absicht: Sie wollen ihre wahre Natur hinter einer Maske verbergen, und so tarnen sie sich als rohe, ja, unerfreuliche Menschen. Tova Chaya erinnert sich vielleicht an die Geschichte von Rabbi Levi Jitzhok aus Berditschew?«
»Gottes Trinker.«
»Ich sehe, du hast nicht alles vergessen, was wir zusammen studiert haben. Gottes Trinker ist tatsächlich die Geschichte, an die ich denke. In dieser Geschichte stellte der heiligmäßige Rabbi Levi Jitzhok fest, dass er, wenn es um die göttliche Gnade geht, von Chaim, dem Wasserträger, in den Schatten gestellt wird – von einem Toren, der von morgens bis abends schicker ist.« TC und der Rabbiner lachten leise.
»Das heißt, die gerechtesten Menschen erscheinen nicht selten in der entgegengesetzten Gestalt?«, fragte Will.
»Ja. Betrachten Sie es als eine Art göttlichen Scherz. Oder als den Beweis dafür, dass das Judentum eine zutiefst demokratische Philosophie ist. Die Heiligen sind nicht die, die wir am besten kennen oder die die meisten Titel im Namen fuhren. Und es sind auch nicht diejenigen, die am nachdrücklichsten beten, am eifrigsten fasten oder die Gebote am gewissenhaftesten befolgen. Das Maß der Heiligkeit besteht in der gerechten und großzügigen Behandlung unserer Mitmenschen.«
»Und dieser Mann, dieser Trinker, war gut zu seinen Mitmenschen?«
»Sehr gut muss er gewesen sein.« Alle drei schwiegen für einen Augenblick, und man hörte nur das geräuschvolle Atmen des Alten.
»Da gibt es eine Geschichte. Eine der ältesten.« Wieder umspielte die Andeutung eines Lächelns seine Lippen. Will sah plötzlich, was sich hinter dem Bart und dem Akzent verbarg: ein ziemlich bezaubernder Mann, alt und gebeugt, aber in seiner Jugend sicher ein charismatischer Lehrer.
Rabbi Mandelbaum war aufgestanden und schlurfte um den Tisch herum, um in das Bücherregal hinter Wills Kopf zu greifen. »Hier, das ist aus dem Talmud Jeruschalmi, aus dem Traktat über die Fastentage. Tova Chaya, haben wir das nicht zusammen studiert?«
Will konnte nicht folgen. »Verzeihung, woher ist es?«
TC schaltete sich ein. »Man nennt es den Palästinischen Talmud: ein Buch mit rabbinischen Kommentaren, geschrieben in Jerusalem.«
»Wann?«
Rabbi Mandelbaum hatte sich wieder auf seinen Stuhl gesetzt; er blätterte in dem Buch und antwortete, ohne aufzublicken. »Diese Geschichte stammt aus dem dritten Jahrhundert der allgemeinen Zeitrechnung.« Die allgemeine Zeitrechnung – eine Umschreibung für Anno Domini , im Jahr des Herrn, eine Formel, die kein gläubiger Jude benutzen konnte. »Es ist wahrscheinlich die älteste Geschichte ihrer Art.« Seine Augen überflogen den Text. »Gut, wir brauchen wahrscheinlich nicht alle Einzelheiten, aber in dieser Geschichte bemerkt Rabbi Abbahu, dass das Gebet der Gemeinde um Regen erhört wird, wenn ein bestimmter Mann dabei anwesend ist. Ist er nicht da, gibt es keinen Regen. Und es stellt sich heraus, dass dieser Mann ausgerechnet in einem Freudenhaus arbeitet! Verzeih mir, Tova Chaya, dass ich von solchen Dingen rede.«
»Sie meinen«, sagte Will, »er ist ein Zuhälter? Und trotzdem ist er ein Gerechter?«
»Das sagt der Talmud.«
Will lief es eisig über den Rücken. Ihn schauderte, und seine Schultern zitterten. Er hörte nicht, was TC und der Rabbi sagten. In seinem Kopf war nur Platz für eine einzige Stimme. Sie gehörte Letitia, der Frau, die er in Brownsville besucht hatte. Er hörte sie laut und deutlich: Der Mann, den sie gestern Nacht umgebracht haben, mag an jedem Tag seines Lebens, den Gott ihm geschenkt hat, gesündigt haben – aber er war der gerechteste Mann, den ich je gesehen habe.
Das hatte sie über Howard Macrae gesagt, der genau wie der Mann in der Gemeinde im dritten Jahrhundert seinen Lebensunterhalt
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