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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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gute Menschen in der Stadt finde, solle Gott die Stadt verschonen. Gott ist einverstanden, und da fängt Abraham an zu feilschen. Er sagt: Wenn das so ist, wenn du bereit bist, sie um fünfzig Männer willen zu verschonen, wie wär’s dann mit vierzig? Gott ist wieder einverstanden. Aber sie feilschen weiter, bis es Abraham schließlich gelungen ist, Gott auf zehn herunterzuhandeln. Okay, sagt Gott, zeige mir zehn gute Menschen, und ich werde Sodom verschonen. Darauf gründet sich das Prinzip, dass wir, solange es eine Hand voll wirklich gerechter Menschen gibt, alle in Sicherheit sind. Wir sind sicher, weil sie auf der Welt sind.«
    »Die genaue Zahl ist umstritten«, sagte Rabbi Mandelbaum.
    »Manche sagen, es sind dreißig, andere sprechen von fünfundvierzig. Aber ungefähr seit dem vierten Jahrhundert einigte man sich weitgehend auf sechsunddreißig. Rabby Abaye schreibt: ›Es gibt auf der Welt nicht weniger als sechsunddreißig Gerechte in jeder Generation, auf denen Schechina ruht.«
    »Sorry, wie heißt das?«
    »Ich bitte um Nachsicht. Schechina ist das Leuchten Gottes, das Göttliche Angesicht.«
    Immer noch halb flüsternd erläuterte TC: »Damit ist die äußere Erscheinung Gottes gemeint. So etwas wie das Göttliche Licht.« Es klang stolz, als sie hinzufügte: »Das Wort ist weiblich.«
    »Damit ich wirklich alles richtig verstehe«, sagte Will zögernd. »Nach der jüdischen Lehre leben zu jeder Zeit sechsunddreißig wahrhaft gerechte Menschen. Sie mögen im Verborgenen leben, alltäglichen Berufen nachgehen, ein missratenes, vielleicht sündiges Dasein führen. Aber im Stillen und insgeheim begehen sie Taten von außergewöhnlicher Gerechtheit. Und solange sie da sind, kann uns allen nichts passieren. Sie tragen die Welt auf den Schultern.« Jetzt verstand Will den letzten Hinweis: den Atlas am Rockefeller Center, der das ganze Universum auf seinen Schultern trug.
    »Und das bedeutet«, folgerte er langsam, »wenn sie nicht mehr da sind – aus welchem Grund auch immer –, ist es buchstäblich das Ende der Welt.«
    Der alte Rabbiner nickte ernst und gemessen. »Ich fürchte, genau das bedeutet es.«

45
    SONNTAG, 20.46 UHR, CROWN HEIGHTS, BROOKLYN
    Das war es also, wofür Menschen starben. Für nichts weiter als eine bizarre, pseudobiblische Legende. Die Verschwendung an Leben traf Will noch einmal mit voller Kraft: Welche Verrücktheit, welche Grausamkeit, dass Howard Macrae oder Pat Baxter im Namen einer irren Wahnvorstellung ermordet wurden. Wer wollte ernsthaft glauben, dass sechsunddreißig Menschen die Welt aufrechterhielten? Will hatte seinen Verstand nicht umsonst im empirisch-skeptischen Geiste Oxfords geschult. Er hatte gelernt, solchen Unsinn einfach abzulehnen. Da konnte man doch ebenso gut glauben, dass am Ende des Gartens Feen wohnten.
    Aber dennoch: Was er glaubte, war in diesem Falle irrelevant. Irgendwelche Typen glaubten ganz offensichtlich daran – und zwar mit solchem Fanatismus, dass sie bereit waren, dafür auf der ganzen Welt völlig unschuldige Männer umzubringen. Wenn hier das Motiv der Mörder lag, war es unwichtig, ob es rational war oder nicht.
    So räsonierte Will vor sich hin. Aber irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Es hatte etwas mit diesem Mann und seinen Büchern zu tun, mit dem Respekt, den TC ihm erwies. Etwas auch mit TC, mit Tova Chaya selbst. Diese Leute waren keine augenrollenden Irren. Sie waren die Bewahrer einer uralten Überlieferung, die seit Sodom bis heute überdauert hatte. Die Geschichte der Sechsunddreißig war in aller Stille von Generation zu Generation weitergegeben worden, von den Tagen Abrahams über die Jahrhunderte der babylonischen Gefangenschaft bis ins östliche Europa von heute. Juden waren keine schrulligen Anhänger irgendwelcher Phantasien. Der Rabbiner hatte ihm gesagt, sie glaubten nicht an Satan und den Teufel, sondern an das Böse im Menschen. In seinen Gesprächen mit TC hatte er denselben Eindruck gewonnen: Das Judentum interessierte sich weniger für das Übernatürliche als viel mehr dafür, wie lebendige Menschen einander im Hier und Jetzt behandelten. Offenbar glaubten sie weder an fliegende Untertassen noch an Krüppel, die ihre Krücken wegwarfen. Sie waren bodenständiger. Und wenn sie an die Existenz von sechsunddreißig verborgenen Gerechten glaubten, gab es vielleicht einen guten Grund dafür.
    Und noch etwas dämpfte seinen sonst eher skeptischen Instinkt. Hätte er es nicht selbst herausgefunden, hätte er es nicht

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