Die Gerechten
Überzeugung gelangt, Beth gehöre zu den Gerechten. Jetzt wusste er, dass das nicht sein konnte: Sie war eine Frau. Und er war so ratlos wie zuvor.
Eine neue Frage kam ihm in den Sinn, und er stellte sie sofort.
»Wer würde so etwas tun? Wer würde das Ende der Welt herbeiführen wollen?«
»Das kann nur ein Knecht des Sitra achra sein.«
Will runzelte die Stirn. Rabbi Mandelbaum begriff, dass eine Erklärung nötig war.
»Verzeihen Sie, ich vergesse es immer wieder. Sitra achra bedeutet wörtlich: Die andere Seite. In der Kabbala bezeichnet man damit die Mächte des Bösen. Leider umgeben sie uns zu allen Seiten, jeden Tag und in allen Dingen.«
»So etwas wie der Teufel oder Satan?«
»Nein, das eigentlich nicht. Sitra achra ist keine äußere Macht, der wir die Schuld an allem geben können, das unrecht ist. Die Macht des Sitra achra wurzelt in den Handlungen der Menschen. Es ist nicht Luzifer, der das Böse in die Welt bringt. Ich fürchte, Mr. Monroe, das sind wir selbst.«
»Aber warum sollten religiöse Menschen, Menschen Gottes, so etwas tun – die Gerechten ermorden?«
»Ich weiß es nicht. Wissen Sie, Mr. Monroe, wir Juden sagen, wer eines Menschen Leben rettet, der rettet die ganze Welt. Einen Menschen zu töten, ist daher ein schweres Verbrechen. Das größte Verbrechen. Und einen Zaddik zu töten? Das hieß, den Namen des Allmächtigen zu schänden. Aber mehr als einen zu töten? Sich vorzunehmen, sie alle zu töten? So viel Ruchlosigkeit kann ich nicht annähernd begreifen.«
»Es gibt kein denkbares Motiv?«
»Vermutlich ist es vorstellbar, dass jemand den Glauben daran bis an die Grenzen des Möglichen ausloten möchte. Dass er sehen will, ob es wirklich wahr ist, dass die Lamedvav die Welt tragen. Wenn sie alle fort sind, werden wir es wissen, nicht wahr?«
»Vielleicht glauben sie es auch schon«, erwog Will. »Vielleicht glauben sie es so sehr, dass sie das Ende der Welt herbeiführen wollen.«
In der Stille, die darauf folgte, fiel Will etwas auf, das er bisher zwar wahrgenommen, aber noch nicht wirklich bedacht hatte: Für jemanden, der soeben mit einer solchen Neuigkeit konfrontiert worden war, wirkte Rabbi Mandelbaum bemerkenswert ruhig. Er saß auf seinem Stuhl und blätterte in seinen Büchern, als wäre dies ein rein theoretisches Problem.
Jetzt las der Rabbiner seine Gedanken. »Niemand könnte so etwas tun«, sagte der alte Mann und lehnte sich seufzend zurück. »Denn niemand weiß ja, wer die Lamedvavniks sind. Darin liegt ihre Macht.«
Betreten erkannte Will, dass er daran nie gedacht hatte. Sechsunddreißig Männer, die in bescheidener Verborgenheit über den ganzen Globus verteilt lebten: Wie sollte irgendjemand wissen, wer sie waren? Und wie hatten Macraes und Baxters Mörder sie gefunden?
»Der Zaddik lebt verborgen – manchmal vor sich selbst, ohne dass er etwas von seiner eigenen Natur ahnt. Wenn aber einer sich selbst nicht kennt, wie kann ihn dann ein anderer kennen?«
»Also hat niemand eine Ahnung, wer die sechsunddreißig sind? Es gibt keine geheime Liste oder so etwas?«
Der Rabbi zwinkerte. »Nein, Mr. Monroe, es gibt keine Liste.
Wohlgemerkt –« Mandelbaum unterbrach sich; er stand auf und suchte schon wieder nach einem Buch.
»Tova Chaya, hinter dir – da steht es. Gibst du mir das Buch von Rebbe Josef Jitzhok?«
Will schrak hoch. Er hatte wenige vertraute Worte gehört, seit er hier war, aber diesen Namen kannte er. TC sah sein Gesicht und gab ihm eine geflüsterte Erklärung.
»So hieß der vorige Rebbe. JJ wurde nach ihm genannt, aber er starb vor fünfzig Jahren.«
»Also«, sagte der Rabbi und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Es ist so etwas wie eine Autobiographie des Rebbe. Hier beschreibt er die Zaddikim, als wären sie eine Geheimgesellschaft. Er bezeichnet sie nicht ausdrücklich als Lamedvavniks, aber er spricht von ihnen. Er vermutet, dass diese Leute, die in verschiedenen Städten lebten, sozusagen die Begründer des Chassidentums waren.«
Er hob den Kopf und schloss die Augen, als lese er etwas, das auf seinen Lidern geschrieben stand. Offenbar suchte er in seinem Gedächtnis. »Da gibt es auch noch den großen Rabbi Leib Sorres. Im achtzehnten Jahrhundert. Von ihm heißt es, er habe geheimen Kontakt mit den verborgenen Männern gehabt, und er habe sogar dafür gesorgt, dass sie Essen und Kleidung hatten. Das Gleiche sagt man über Baal Schem Tov, den anerkannten Begründer des Chassidentums.« Er öffnete die
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