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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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animalische Seele nicht einfach. Er verwandelt sie in etwas anderes, in eine Macht des Guten. Dann ist er so etwas wie ein Motor mit zwei Zylindern, könnte man sagen. Es ist, als habe er zwei göttliche Seelen. Das gibt ihm besondere Kraft. Es befähigt ihn, die Welt zu retten.«
    »Und wäre eine einzige Tat genug?«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Na ja, wenn ein Mann nur eine einzige außerordentlich gute Tat tut – wäre das genug, um zu sagen, er sei ein Zaddik?«
    »Vielleicht denken Sie dabei an ein konkretes Beispiel? Ja? Meine Antwort ist: Vielleicht mag es für uns so aussehen, als habe der Zaddik nur eine einzige gute Tat getan. Aber vergessen Sie nicht, diese Männer wirken im Verborgenen. Die Wahrheit ist, dass wir vielleicht nur von einer einzigen Tat wissen.«
    »Und wie kann eine solche Tat aussehen?«
    »Das ist eine gute Frage. Wissen Sie, in der Geschichte über den Rabbi Abahu und den Mann im Freudenhaus –«
    »In der Geschichte aus dem dritten Jahrhundert?«
    »Ja. In dieser Geschichte hat der Zaddik etwas sehr Unbedeutendes getan. Ich habe die Einzelheiten vergessen, aber er bringt ein sehr geringes Opfer, um die Würde einer Frau zu retten.«
    Will schluckte laut. Wie Macrae.
    »Und das scheint sich wie ein roter Faden durch die Geschichten zu ziehen. Manchmal ist es eine Tat von ungeheuren Maßstäben« – Will dachte an Finanzminister Curtis in London, der mehrere Millionen Pfund für die Armen abgezweigt hatte – »und es kann sein, dass ein Zaddik eine ganze Stadt vor der Zerstörung bewahrt. Manchmal ist es eine winzige Geste gegen einen einzelnen Menschen: ein Essen für einen Hungernden, eine Decke für einen Frierenden. In jedem Fall behandelt ein Zaddik einen Mitmenschen gerecht und großmütig.«
    »Und auf diese Weise kann eine kleine Geste ein ganzes Leben ausgleichen.«
    »Ja, Mr. Monroe. Der Zaddik mag ein sündhaftes Leben gelebt haben. Denken Sie nur an Chaim, den Wasserträger, der sich besinnungslos betrunken hat. Aber diese gerechten Taten – sie verändern die Welt.«
    »Es geht also bei ihrem Gutsein nicht um das Befolgen von Vorschriften. Nicht um härene Hemden und lange Gebete. Oder darum, die Bibel Wort für Wort auswendig zu kennen. Es geht darum, wie wir einander behandeln.«
    »Bein adam v’adam. Zwischen Mensch und Mensch. Dort wohnt das Gute, ja, das Göttliche. Nicht im Himmel, sondern hier auf Erden. In unserer Beziehung zueinander. Und es bedeutet auch, dass wir sehr umsichtig miteinander umgehen müssen. Wir müssen jeden, dem wir begegnen, mit großem Respekt behandeln, denn wir wissen ja nicht, ob der Mann, der das Taxi fährt oder die Straße kehrt oder an der Ecke bettelt, nicht einer der Gerechten ist.«
    »Das ist ziemlich demokratisch, nicht wahr?«
    Der Rabbi lächelte. »Jedes menschliche Leben hat den gleichen Wert. Das ist der Grundgehalt der Thora. Das ist es, was Tova Chaya jeden Tag im Seminar gelernt hat. Und was sie hier bei mir gelernt hat, bevor sie …« Der Rabbi sah wehmütig und plötzlich sehr alt aus. Er sprach nicht zu Ende.
    Will fühlte sich schuldig. Nicht persönlich – er wusste, dass nicht er dafür verantwortlich war, dass Tova Chaya vor all den Jahren fortgegangen war. Aber – er hatte Mühe, es zu formulieren – er war schuldig als Vertreter der modernen Welt. Das war es. Es war das moderne Amerika gewesen, was die junge Tova Chaya von den Gebräuchen und den Rhythmen fortgelockt hatte, die das jüdische Leben Jahrhunderte lang geprägt hatten, von den russischen Dörfern bis nach Crown Heights. Es war Manhattan, funkelnde Glasgebäude, K-ROC im Radio, enge Jeans, Pizzahut, Blockbuster im Cineplex, The Gap, HBO, Hochglanzillustrierte, Andy Warhol im MoMa, Rollerblades im Central Park, American Express-Karten, One Click Shopping im Internet, die Columbia University, Sex vor der Ehe – alles das hatte TC verlockt. Wie konnte die mittelalterliche Konformität im chassidischen Leben damit konkurrieren? Die triste Kleidung, der reglementierte Tagesablauf, die zahllosen Beschränkungen in allem – was man essen durfte, was man studieren, lesen, malen durfte, wen man lieben durfte. Kein Wunder, dass TC geflohen war.
    Aber zugleich sah Will, dass TC auch etwas verloren hatte, als sie fortgegangen war. Er hörte es in Rabbi Mandelbaums Stimme und sah es in TCs Augen. Und er hatte es selbst erlebt, ein paar Stunden lang am Freitagabend, bevor er gepackt und verhört worden war. Hier gab es etwas, das er kaum je gefunden

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