Die Gerechten
Augen wieder. »Aber das sind Ausnahmen. Allgemein ist man sich einig, dass die verborgenen Zaddikim auch verborgen bleiben. Es gibt Geschichten von Beinahe-Zusammentreffen, von Zaddikim, die einander fast begegnet wären – aber dann doch nicht. Und man nimmt an, dass ein Gerechter die Weisheit besitzen dürfte, einen anderen zu erkennen. Wissen Sie – dass er den Glanz irgendwie spüren würde.« Der Rabbiner lächelte wie schon einmal – ein Lächeln, das dem humorvollen, schelmischen jungen Mann gehört hatte, der Rabbi Mandelbaum einmal gewesen sein musste. »Aber eigentlich sind diese Männer unsichtbar – für einander und für uns alle.«
»Und wie könnte sie trotzdem jemand finden?«
»Das ist eine Frage von der Art, wie Tova Chaya sie immer stellte – eine Frage, die Rabbi Mandelbaum nicht beantworten kann.« Die beiden lächelten einander liebevoll zu – ein Großvater und seine liebste Enkelin. »Ich wünschte, ich wüsste es, Mr. Monroe, aber ich weiß es nicht. Dazu müssten Sie mit anderen sprechen. Mit denen, die in die tiefsten Geheimnisse der Kabbala eingedrungen sind.«
Will sah, dass der alte Mann müde wurde. Aber er wollte das Gespräch noch nicht beenden. In den letzten dreißig Minuten hatte er mehr Antworten bekommen als in den achtundvierzig Stunden vorher. Er verstand jetzt nicht nur die Vielzahl der Hinweise, die per SMS gekommen waren, sondern auch den Hintergrund – die uralte Geschichte, die sich hier entfaltete. Sicher hatte der alte Mann auch die Antwort auf die Frage, warum Beth gefangen gehalten wurde. Will musste sich nur die richtige Frage einfallen lassen.
Ein Summen ertönte, der leise Vibrationsalarm eines Handys. TC, die so sehr daran gewöhnt war, Combat-Hosen mit zahllosen Taschen zu tragen, war in ihrem langen, taschenlosen Rock plötzlich hilflos; sie wusste nicht, wo sie nachsehen sollte. Schließlich fiel es ihr ein: Sie hatte sich eine elegante Lederhandtasche von Beth ausgeborgt, die erwachsener aussah als alles, was TC selbst besaß. Das Telefon war darin. Sie flüsterte eine Entschuldigung und ging hinaus, um das Gespräch anzunehmen.
Will versuchte verzweifelt, alles aufzunehmen, was er gerade gehört hatte. Wilde Theorien über das Ende der Welt, schreckliche Warnungen vor einer großen Katastrophe. Er ließ den Kopf in die Hände sinken. Wo um alles in der Welt war er hier hineingeraten?
Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter.
»Es ist schrecklich für einen Mann, ohne seine Frau zu sein. Mrs. Mandelbaum ist seit drei Jahren tot, und mein Leben geht weiter. Ich studiere noch, ich bete noch. Aber wenn ich dann und wann nachts von ihr träume – ah, das ist ein Schabbes.«
Will hatte Tränen in den Augen. Niemand – nicht sein Vater, nicht Tom, nicht TC – hatte wirklich verstanden, wie es für ihn war, ohne Beth zu sein. Aber dieser alte Mann, dem er eben zum ersten Mal begegnet war, hatte genau das ausgesprochen, was Will fühlte.
Um den Bann zu brechen und seine Tränen zu verbergen, räusperte er sich und sammelte sich, um eine Frage zu stellen. Er wusste nicht, ob ihm die Antwort helfen würde, Beth zu finden, aber er wollte so viel wie möglich wissen.
»Was gilt als gute Tat? Was sind das für Handlungen, die den Gerechten kennzeichnen?«
»Ah, ich fürchte, so einfach kann man das nicht sagen. Man muss an die Seele des Zaddik denken. Es ist eine Seele von solcher Reinheit, solcher Güte, dass sie sich ausdrücken muss. Die Taten sind nur die äußere Manifestation einer Güte, die im Innern wohnt.« Er stemmte sich von seinem Stuhl hoch, zweifellos um wieder auf die Suche nach einem Buch zu gehen.
»Der Schlüsseltext des Chassidentums ist das Tama. In diesem Buch gibt es eine Definition des Zaddik. Und was steht da? In jedem Menschen sind zwei Seelen, eine göttliche und eine animalische Seele. In unserer göttlichen Seele sitzt unser Gewissen, unser Drang, Gutes zu tun, unser Verlangen, zu lernen und zu studieren. In unserer animalischen Seele wohnen unsere Gelüste nach Speise, Trank und Lust. Zwischen diesen Seelen besteht zumeist ein Konflikt. Ein guter Mensch gibt sich große Mühe, seine animalische Seele im Zaum zu halten, seine Begehrlichkeiten zu zügeln und nicht jedem Wunsch gleich nachzugeben. Das kennzeichnet den alltäglich guten Menschen – zu kämpfen!« Ein Lächeln legte sein Gesicht in tiefe Falten. Er kannte die Schwächen des Fleisches. »Aber ein Zaddik ist anders. Ein Zaddik zähmt seine
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