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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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hatte, nicht als Heranwachsender in England, nicht als Erwachsener in Amerika. Der schlichte Ausdruck dafür hieß »Gemeinschaft«. In den Phantasien der Menschen kam es oft genug vor. Zu Hause besaß der Mythos des englischen Dorfes, wo jeder jeden kannte, noch immer eine machtvolle Anziehungskraft, obwohl Will ihn in der Realität nie erlebt hatte. Im Amerika der Vororte hielten die Lattenzaun-Nachbarschaften mit ihrem Car-Sharing und den Straßenpartys sich immer noch gern für »Gemeinschaften« – aber sie hatten nicht das, was er in Crown Heights gesehen hatte.
    Hier gingen die Leute miteinander um wie eine große, weit verzweigte Familie. Ein ausgeklügeltes Wohlfahrtssystem bedeutete, dass alle füreinander sorgten, als äßen sie aus einem gemeinsamen Topf. Kinder gingen überall ein und aus, und niemand schien den anderen fremd zu sein. TC hatte gesagt, dass daraus eine erstickende Klaustrophobie entstanden sei, und sie habe hinausgemusst, um wieder atmen zu können. Aber sie hatte auch von einer Wärme des gemeinsamen Lebens gesprochen, die sie nie wieder irgendwo gefunden hatte.
    Rabbi Mandelbaum blätterte mit gesenktem Kopf in einem neuen Buch.
    »Da ist noch etwas. Ich weiß nicht, ob es weiterhelfen wird oder nicht. Gershom Scholem erinnert uns daran, dass vielen Legenden zufolge einer der sechsunddreißig Männer auch unter ihnen herausragt.«
    »Wirklich? Inwiefern?«
    »Einer der Sechsunddreißig ist der Messias.«
    Will beugte sich vor. »Der Messias?«
    ›»Wäre die Zeit seiner würdig, so würde er sich offenbaren^ So sagen es unsere Gelehrten.«
    »Der Kandidat«, sagte Will leise.
    »Man hat es Ihnen schon erklärt?«
    »TC hat mir gesagt, in jeder Generation gibt es einen Kandidaten, der der Messias sein könnte. Wenn jetzt messianische Zeiten wären, wäre es dieser Mann. Ist die Zeit nicht die richtige, passiert nichts.«
    »Wir müssen würdig sein. Andernfalls ist die Gelegenheit verloren.«
    Unwillkürlich ging Wills Bück zu den Fotos des Rebbe, die überall an den Wänden hingen. Seit über zwei Jahren tot, aber die Augen leuchteten.
    »Genau«, sagte Rabbi Mandelbaum, als er sah, wohin Will schaute. Und die beiden Männer sahen einander an.
    Die Tür ging auf. TC stand da und umklammerte ihr Telefon.
    Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen, und ihre Augen waren glasig wie die eines betäubten Tieres im Schlachthof.
    Sie beugte sich über Will und flüsterte ihm ins Ohr. »Die Polizei ist hinter mir her. Sie sucht mich wegen Mordes.«

46
    MONTAG, 2.20 UHR, DARWIN, NÖRDLICHES AUSTRALIEN
    Die Musik hatte aufgehört; deshalb war er hineingegangen. Das tat er während der ganzen Schicht, ob es Tag war oder Nacht: Auf Zehenspitzen schlich er sich ins Zimmer, nahm die abgelaufene CD heraus und legte eine neue ein. Der Schrank am Bett war voll davon – Schubert hauptsächlich -; die Tochter des alten Mannes hatte sie dagelassen. Die Familie hatte Djalu nicht gebeten, es zu tun, aber er wusste, dass sie es so haben wollten.
    Er startete den CD-Player. Ein Jammern kam aus dem Nachbarzimmer; er musste gleich hinübergehen. Aber er wollte ein Weilchen bei diesem Bewohner hier bleiben, bei Mr. Clark, dem Mann, der Musik liebte. Djalu hatte ihn jeden Tag nur eine oder zwei Stunden wach gesehen; während der übrigen Zeit ließ das Beruhigungsmittel ihn schlafen. Aber in diesen wachen Minuten schienen die Klänge der Violinen und Celli, die aus den Lautsprechern ins Zimmer wehten, eine heilende Wirkung auf Mr. Clark zu haben. Seine alten Lippen öffneten sich, als wolle er die Melodien schmecken, und manchmal bewegten sie sich sogar im Schlaf kaum merklich.
    Djalu nutzte diese Augenblicke, um den kleinen Schwamm in ein Wasserglas zu tauchen und Mr. Clarks Mund damit zu befeuchten. Der alte Mann, er war fast fünfundachtzig, konnte nicht mehr essen und trinken, ohne sich zu übergeben. Deshalb konnte man ihm nur auf diese Weise ein wenig Nahrung zuführen. Er starb wie so viele Leute hier – nicht an der Krankheit, die ihn vor Monaten überfallen hatte, sondern an der zwangsläufigen Unterernährung und Austrocknung. Seine Organe stellten den Dienst ein, eins nach dem andern, bis der Tod endlich eintrat.
    Es war eine grausame Art, einen Menschen sterben zu lassen. Djalus Vater missbilligte sie als typisch für die »Medizin der Weißen«: lauter Wissenschaft und kein Geist. Manchmal glaubte Djalu, dass er Recht hatte; schließlich hatte er selbst hier schon schreckliche Dinge erlebt.

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