Die Gerechten
uns fünfunddreißig verschiedene Verse.«
»Aber …«
»Ich weiß, was Sie denken, Mr. Monroe, und Sie haben Recht. Es sind sechsunddreißig Gerechte. Dazu kommen wir gleich. Einstweilen hat Josef Jitzhok fünfunddreißig Verse, die ihn anstarren, und er fragt sich, was sie wohl bedeuten könnten. Er denkt an die Geschichten, mit denen Kinder wie er und Kinder wie Sie, Tova Chaya, aufgewachsen sind. Geschichten über den Begründer des Chassidentums, Baal Schem Tov, Geschichten über Rabbi Leib Sorres.«
»Männer von solcher Größe, dass sie das Privileg hatten, zu wissen, wo die Gerechten sich aufhielten.« Will sah TC an, als sie sprach; er war sicher, dass sie alles begriffen hatte.
»Genau. Nur wenigen war das Denken des Rebbe so vertraut wie Josef Jitzhok – und er kannte auch die Bedeutung des Rebbe, er wusste, dass der Rebbe einer der Großen in der chassidischen Geschichte war. Ein paar der ganz Großen waren in das göttliche Geheimnis eingeweiht worden. Es war keine absurde Vorstellung, dass der Rebbe einer von ihnen war.«
Will wollte vorgreifen und beweisen, dass er ein genauso gescheiter Schüler war wie TC. »Also nimmt Josef Jitzhok an, der Rebbe wisse, wer die Sechsunddreißig sind. Und er geht noch weiter: Er vermutet, dass die fünfunddreißig Verse einen Hinweis auf ihre Identität geben.«
»So ist es, Will. Das ist Josef Jitzhoks Vermutung. Diese Gedanken kommen ihm in den letzten Tagen des Rebbe, als dieser schon zu krank ist, um noch Fragen zu beantworten.«
»Und was tut Josef Jitzhok?«
»Er starrt die fünfunddreißig Verse an, tagelang, immer wieder. Der Rebbe will ohne Zweifel, dass man sie versteht, und er gibt diese Informationen aus einem bestimmten Grund weiter. Josef ist entschlossen, die Nuss zu knacken und festzustellen, was darin steckt. Er betrachtet sie von allen Seiten. Er übersetzt die Schriftzeichen in ihre numerischen Werte, er addiert, er multipliziert. Er macht Anagramme. Aber natürlich gibt es da ein logisches Problem.
Wie konnte die Identität der Gerechten in diesen Versen enthalten sein? Es sind andere in jeder Generation, aber die Verse bleiben immer dieselben. Selbst wenn, sagen wir, Vers zwanzig den Namen des zwanzigsten Zaddik in diesem Jahr enthielte, wo würden wir dann den Namen des zwanzigsten Zaddik des Jahres 2020 oder 2050 finden – oder in der Vergangenheit den von 1950 oder von 1850? Wie können die Namen von Menschen, die heute leben, sich in einem Text verbergen, der seit Anbeginn unverändert ist?
Und hier machten sich Josef Jitzhoks bemerkenswerte Fähigkeiten wirklich bemerkbar. Er erinnerte sich an die Antwort.«
»Sie meinen, der Rebbe hatte es ihm schon gesagt?«
»Nicht direkt natürlich. Aber der Rebbe hatte ihm die Antwort gegeben. Josef Jitzhok hatte sie gehört. Er brauchte sich nur daran zu erinnern. Und wissen Sie, was es war? Es war der letzte Satz der letzten Predigt beim letzten farbrengen, an dem der Rebbe teilgenommen hatte. ›Der Raum hängt ab von der Zeit. Die Zeit offenbart den Raum.‹ Das waren seine letzten Worte in der Öffentlichkeit.«
Ein Pause trat ein.
»Unglaublich«, sagte TC schließlich.
»Ich fürchte, ich kann nicht mehr folgen.« Will fühlte sich plötzlich wie der Klassentrottel.
»Keine Angst, Josef Jitzhok war genauso ratlos. Die Sätze klangen wunderschön, aber rätselhaft. Der Raum hängt ab von der Zeit. Die Zeit offenbart den Raum. Was bedeutet das? Schließlich kam Josef Jitzhok zu mir und offenbarte mir seine kleine Theorie. Der Rebbe sprach oft in Rätseln und elliptischen Sätzen, zu deren Studium man viele Stunden, vielleicht sogar Jahre brauchte. Josef Jitzhok arbeitete eine ganze Nacht lang an diesem Satz. Dann hatte er das, was er einen Geistesblitz nannte, während ich sagen würde, Haschem reichte ihm seine helfende Hand.
Sie wissen vielleicht, dass der Rebbe ein großes Interesse für Wissenschaft und Technik hegte. Er las den Scientific American, Nature und eine ganze Reihe anderer Zeitschriften. Er war stets informiert über die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der Neurobiologie und Neurophysiologie. Aber sein besonderes Interesse galt der Informationstechnologie. Er liebte Gadgets! Er besaß keins; er hatte nichts übrig für materiellen Besitz. Aber er wusste gern alles darüber, und das wiederum wusste Josef Jitzhok. Deshalb hatte er die Idee. Ich zeig’s Ihnen.«
Rabbi Freilich nahm ein abgegriffenes, in Leder gebundenes Buch zur Hand und blätterte schnell
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