Die Gerechten
Richtung der Synagoge unterwegs waren, und wieder fragte er sich, ob TC und er nicht geradewegs in eine Falle liefen. Freiwillig in die Höhle des Löwen spazierten – mit dem Löwen als Führer.
Aber sie benutzten nicht den Haupteingang. Stattdessen betraten sie ein Nachbargebäude, das in dieser Gegend völlig deplatziert aussah – wie der Backstein-Annex eines College in Oxford, uralt nach New Yorker Maßstäben. Draußen standen Scharen von jungen Männern, die aus dem Eingangsflur herausquollen. Aber sie brauchten sich nicht durch das Gedränge zu schieben: Sowie die Leute den Rabbi erkannten, machten sie ihm Platz. Will sah ein paar hochgezogene Augenbrauen; Will nahm an, dass sie ihm galten: Er war ein unbekanntes Gesicht. Aber als er sah, wie TC den Kopf gesenkt hielt, begriff er: Sie waren schockiert, eine Frau auf diesem männlichen Territorium zu sehen.
TC flüsterte ihm eine Erklärung zu. Sie waren im Haus des Rebbe. Hier hatte der verstorbene Anführer gewohnt und gearbeitet.
Will riss die Augen auf. Er war schon einmal hier gewesen, vor achtundvierzig Stunden.
Bald standen sie vor einer Treppe. Das Gedränge hatte sich gelichtet. Sie gingen hinauf und gelangten in einen leeren Korridor. Geradewegs in seine Falle, dachte Will.
Rabbi Freilich führte sie durch eine Tür, und dahinter war eine zweite. Aber er ging nicht weiter, sondern drehte sich um und erklärte: »Es zeigt das Ausmaß unserer Verzweiflung, dass ich Ihnen zeigen werde, was Sie gleich sehen. Es ist eine Entweihung des Jom Kippur, wie sie in diesem Hause noch niemals vorgekommen ist, und Gott möge verhüten, dass sie je wieder vorkommt. Wir tun es für –«
»Pikuach Nefesh«, unterbrach TC. »Ich weiß. Es geht um die Rettung von Menschenleben.«
Der Rabbi nickte; er war dankbar, dass TC alles verstand. Er drehte sich um und atmete scharf durch die Nase ein, als koste ihn das alles große Überwindung. Dann öffnete er die Tür.
48
SONNTAG, 23.01 UHR, CROWN HEIGHTS, BROOKLYN
In diesem Raum, erkannte Will, wäre es an einem so heiligen Abend normalerweise völlig still: kein elektrisches Licht, keine laufenden Geräte, keine Telefongespräche, kein Essen und Trinken. Selbst Will sah, dass die Szene vor ihm einen Akt des massiven Sakrilegs darstellte.
Es sah aus wie die Einsatzzentrale eines polizeilichen Sonderkommandos. Vielleicht ein Dutzend Leute saßen an Computern, umgeben von Posteingangskörben, die von Papier überquollen. Hinten an der Wand hing eine Schreibtafel voller Namen, Adressen und Telefonnummern. Unten am Rand sah Will eine Liste von Namen. Beim Überfliegen fiel sein Blick auf Howard Macrae und Gavin Curtis. Beide Namen waren durchgestrichen.
»Niemand weiß von diesem Raum – außer denen, die hier arbeiten. Und jetzt Sie. Wir arbeiten hier seit einer Woche Tag und Nacht. Und heute haben wir den Mann verloren, der sich hier am besten auskannte. Den Mann, der alles eingerichtet hat.«
»Josef Jitzhok?« Will sah einen Stapel Landkarten – darunter eine Karte von Montana – und ein paar Reiseführer: London, Kopenhagen, Algier.
»Das alles ist sein Werk. Und heute wurde er ermordet.«
»Rabbi Freilich?« TC schaltete sich ein. »Können Sie nicht einfach vorn anfangen?«
Der Rabbi führte sie zu einem Tisch im vorderen Teil des Raumes, der aussah, als sei er für einen Lehrer, der ein Examen zu beaufsichtigen hatte. Alle drei nahmen dort Platz.
»Wie Sie wissen, sprach der Rebbe in seinen letzten Jahren oft von Moschiach, vom Messias. Er hielt lange Vorträge bei unseren wöchentlichen farbrengen, und oft kam er auf dieses Thema zu sprechen. Tova Chaya wird auch wissen, wie wir diese Vorträge für die Nachwelt aufbewahrt haben.«
Auf ihr Stichwort hin wandte TC sich an Will. »Weil er am Sabbat sprach, durfte der Rebbe nicht auf Tonband oder Film aufgezeichnet werden. Deshalb verließen wir uns auf unser altüberliefertes System. In der Synagoge verteilt, weit vorn, standen drei oder vier Leute, die wegen ihres erstaunlichen Gedächtnisses ausgewählt worden waren. Sie standen, meist mit geschlossenen Augen, nur wenige Schritte vom Rebbe entfernt, hörten aufmerksam zu und merkten sich jedes seiner Worte. Und sowie der Sabbat zu Ende war, setzten sie sich zusammen und spulten ihre Erinnerungen ab, und einer schrieb alles auf. Sie schafften sich alles so schnell wie möglich wieder aus dem Kopf, und sie kontrollierten sich dabei gegenseitig, überprüften hier ein Wort, fügten da eins hinzu. Ich
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