Die Gerechten
Vorschriften, gegen die sie nicht verstoßen mussten.
»Das also wollte der Rebbe sagen«, stellte TC fest. »›Der Raum hängt ab von der Zeit. Die Zeit offenbart den Raum.‹ Das heißt, der Standort ist abhängig von der Zeit, vom Jahr. Und wenn man die Zeit kennt, das Jahr-wenn man die Zahl 5768 benutzt-, kennt man auch den Raum, und man kann den Standort ermitteln.« Sie schüttelte den Kopf, erstaunt über so viel Erfindungsreichtum. »Und ich nehme an, wenn man es bei denselben Versen mit anderen Jahreszahlen versucht, bekommt man andere Orte heraus. Andere Personen.«
»Nun, unsere Texte hüten ihre Geheimnisse gut, Tova Chaya. Josef Jitzhok wollte ausprobieren, was Sie da sagen. Zusammen mit ein paar Leuten hier entwickelte er ein Computerprogramm, das tun sollte, was wir hier mit diesem einen Vers getan haben: Es markierte jedes soundsovielte Schriftzeichen. Er versuchte es mit verschiedenen Jahreszahlen, und tatsächlich fand er über GPS verschiedene Ortsnamen. Aber was nützt uns ein Ortsname – Kabul oder Mainz – für das Jahr 1735? Woher sollen wir wissen, wer damals dort wohnte? Außerdem fragte Josef Jitzhok sich, ob das nicht zu einfach war.«
»Ob was zu einfach war?«
»Er war nicht sicher, ob es unbedingt immer dieselben Verse für jede Zeit sein mussten. Es waren die Verse, die der Rebbe erwähnt hatte, für seine eigene Zeit. Aber vielleicht wussten die anderen großen Weisen, die in der Vergangenheit in dieses Geheimnis eingeweiht waren – Baal Schem Tov oder Rabbi Leib Sorres –, auf andere Weise über die Gerechten ihrer Zeit Bescheid? Sie kannten ja kein GPS. Diese Methode hätten sie also kaum verstanden, oder? Da mussten sie ihre eigenen Wege finden – andere Verse oder vielleicht sogar ganz andere Methoden.
Heute weiß ich, dass es das war, was hinter dem Interesse des Rebbe an diesen Technologien steckte. Ich glaube, ihm war klar, dass selbst die dauerhaftesten alten Wahrheiten sich äußerlich schnell wandeln können und dass sie neue Formen finden. Chassiden mussten über die moderne Welt Bescheid wissen, denn auch sie ist die Schöpfung Haschems. Auch hier ist er zu finden.«
Will und TC schwiegen, von Ehrfurcht gepackt. Es war nicht nur das Leben dieser Sechsunddreißig, was Rabbi Freilich selbst jetzt, am höchsten Fest des jüdischen Jahres, rund um die Uhr arbeiten ließ. Dieser Mann, der gebildet und in ruhigen, rationalen Sätzen sprach, glaubte offensichtlich, er habe weniger als vierundzwanzig Stunden Zeit, um die Welt zu retten. Will versuchte diesen Gedanken auszublenden und sich auf das zu konzentrieren, was ihm auf den Nägeln brannte: Beth.
»Okay«, sagte Will wie ein Captain der Polizei, der seine Leute zur Ordnung rief, »so also funktioniert das System. Die entscheidende Frage ist, wer weiß noch davon? Wer sonst könnte die Identität der sechsunddreißig Gerechten kennen?«
Sie waren zum Tisch zurückgekehrt und der Rabbi hatte sich auf seinen Stuhl fallen lassen. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Unsere größte Hoffnung waren Sie.«
»Wie bitte?«
»Als Sie am Schabbes herkamen. Am Freitagabend. Wir dachten, Sie wären so etwas wie ein Spion. Beauftragt von den Leuten, die das tun. Sie stellten Fragen, Sie waren ein Außenseiter. Vielleicht wollten Sie mehr über die Lamedvav herausfinden. Deshalb haben wir – habe ich Sie so grob behandelt. Dann stellten wir fest, dass Sie der –« Will merkte, dass er ihn nicht als Ehemann der Geisel bezeichnen wollte – »dass Sie etwas anderes waren.«
Will merkte, dass er wieder zornig wurde. Warum packte er diesen Mann nicht einfach beim Kragen und schüttelte ihn, bis er ihm sagte, wo Beth war? Warum ließ er sich das alles gefallen? Weil, sagte eine innere Stimme – wenn diese Leute fanatisch genug waren, um Beth ohne ersichtlichen Grund zu kidnappen, waren sie auch fanatisch genug, um sie in ihrer Gewalt zu behalten. Rabbi Freilich mochte entkräftet und erschöpft aussehen, aber hier waren ein Dutzend Männer, die stärker waren als er. Wenn er sich jetzt auf den Rabbi stürzte, würden sie ihn bald überwältigt haben.
»Gut, also bin ich es nicht. Wer sonst weiß davon?«
Der Rabbi sackte in sich zusammen. »Das ist es ja. Niemand weiß davon. Niemand außerhalb dieser Gemeinde. Und nicht einmal die Gemeinde weiß es. Es gäbe sonst eine Massenpanik. Wenn sie wüssten, dass die Lamedvavnikim ermordet werden, einer nach dem andern, würde hier das Chaos ausbrechen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher