Die Gerechten
Zettel mit der Adresse, die er hier finden sollte.
Rabbi Freilich hatte Will und TC noch einmal zu dem Computerfreak geführt, der ihnen die erste Demonstration geboten hatte, und erklärte ihm das Problem. Gib Jesaja, Kapitel dreißig, Vers sechzehn ein, lass den Computer die entsprechenden Zeichen in den richtigen Abständen markieren, und er wird eine Zahl ausspucken. Gib diese Zahl auf einer GPS-Webseite ein, und du erhältst die Koordinaten für einen Ort: eine Hausnummer in einer Straße an der Lower East Side in Manhattan.
»Moment mal«, hatte Will gesagt. »Ist das nicht ein bisschen unwahrscheinlich? Unter den sechs Milliarden Menschen auf diesem Planeten sind sechsunddreißig Gerechte – und zwei davon sitzen in New York? Howard Macrae und jetzt dieser Typ? Das klingt mir doch ein bisschen allzu praktisch.« Das war noch keine ausgewachsene Anschuldigung, aber aus Wills Skepsis wurde allmählich Misstrauen.
Auch sie, sagte der Rabbi, hätten sich über diesen Zufall gewundert, aber dann hätten sie sich eingehender mit der chassidischen Folklore beschäftigt und herausgefunden, dass ein wirklich großer Zadik einen »Glanz« ausstrahlte – von dem auch Rabbi Mandelbaum gesprochen hatte –, der andere anziehen konnte. Sie vermuteten, der Rebbe sei von solcher Größe gewesen, dass zwei der Zaddikim sich davon angelockt gefühlt hätten. »Wie Satelliten«, erklärte Rabbi Freilich.
Das Problem war, dass in dem Mietshaus, dessen Adresse Will jetzt in der Faust hielt, mehrere Dutzend Leute wohnten. Wer von ihnen war der Zaddik? Die Chassiden waren schon einmal da gewesen – kurz nachdem Josef Jitzhok den Code des Rebbe geknackt hatte –, aber sie hatten ihn nicht ausfindig machen können. Der Mann in diesem Gebäude war unter den verborgenen Gerechten einer der verborgensten.
»Sie haben bessere Chancen als wir, ihn zu finden«, hatte der Rabbi gesagt.
»Warum?«
»Sehen Sie uns an, Mr. Monroe. Wir können nicht wie Sie einfach irgendwo hingehen und Fragen stellen. Wir fallen auf. Sie sind ein Reporter der New York Times, Sie können gehen, wohin Sie wollen, und reden, mit wem Sie wollen. Sie haben Mr. Macrae gefunden, zechuso yogen alenu, und Sie haben Mr. Baxter gefunden, zechuso yogen aleinu.« Möge seine Gerechtigkeit uns schützen. »Finden Sie auch diesen Mann. Gehen Sie und finden Sie unseren Zaddik.«
Also legte Will kurz vor Mitternacht seine Kippa ab und ging wieder hinaus in die Welt. TC beschloss, das Gleiche zu tun.
»Ich hab’s mir überlegt. Ich rufe die Polizei an. Ich kann mich ja nicht ewig verstecken. Und wir haben getan, was wir tun wollten.«
»Was willst du denn sagen?«
»Dass mein Telefon den ganzen Tag tot war, und dass ich eben erst gehört habe, was passiert ist. Wünsch mir Glück. Oder besuch mich wenigstens im Knast.«
»Das ist überhaupt nicht witzig.«
»Ich weiß. Aber du kannst dir doch vorstellen, wie es aussieht: In meiner Wohnung liegt ein Toter, und ich bin den ganzen Tag verschwunden. Vielleicht hab ich morgen früh wirklich eine Mordanklage am Hals.«
»Das ist alles nur meine Schuld. Ich hab dich in diesen Irrsinn hineingezogen.«
»Nein, hast du nicht. Du hast mich um Hilfe gebeten, und ich hätte nein sagen können. Ich wusste ja, worauf ich mich einlasse.«
»Wusstest du das wirklich?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Will beugte sich vor und wollte TC einen Kuss auf die Wange geben, aber dann wich er zurück, als sei sie von einem magnetischen Widerstandsfeld umgeben. Aber natürlich – sie durfte keinen Mann berühren und sich schon gar nicht küssen lassen – mitten im Herzen von Crown Heights. Er begnügte sich mit einem schlichten Abschied.
Will bog nun um die Ecke Montgomery und Henry Street. Sein Atem wehte in weißen Wölkchen vor ihm her. Hinter ihm lag ein kleiner, dreieckiger Park, und vor ihm stand das Haus, zu dem er wollte. Er betrachtete es von oben bis unten. Zwei oder drei Lichter brannten noch.
Und jetzt? Er hatte sich nicht überlegt, was er tun wollte, wenn er hier wäre. Kurz nach Mitternacht konnte er nicht gut an die Türen klopfen und behaupten, er mache eine Umfrage im Auftrag der New York Times.
Zunächst einmal musste er ins Haus kommen. Das wäre ein Anfang, dann könnte er sich die Briefkästen ansehen, die Namen ablesen, ein paar davon mit dem Blackberry bei Google eingeben. Ihm würde schon etwas einfallen.
Oh, gut. Da kam jemand aus dem Haus. Jetzt hatte er Gelegenheit hineinzuhuschen. Aber der Mann war
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