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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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Dann wich er zurück, als habe ihn jemand geschlagen.
    In dem Raum drängten sich Männer und Jungen, die nackt oder fast nackt waren. Dürre Teenager, dickbäuchige Männer um die fünfzig mit Barten, die von der Feuchtigkeit kraus waren, und runzlige Greise – sie alle legten ihre komplette Kleidung ab. Will war oft genug in der Turnhalle gewesen, aber da war das Altersspektrum kleiner, es waren weniger Leute da, und die Lautstärke war viel geringer. Hier schien jeder zu reden, und die kleineren Jungen schrien.
    »Wir dürfen nichts am Leibe tragen, wenn wir die Mikwe betreten«, sagte Sandy. »Sonst werden wir nicht rein für den Schabbes. Unsere Haut muss überall Berührung mit dem Regenwasser haben, das in der Mikwe gesammelt ist. Wenn wir einen Trauring tragen, müssen wir ihn abnehmen. Wir müssen sein wie am Tag unserer Geburt.«
    Will schaute den Ring an seinem Finger an, den Beth ihm gegeben hatte. Bei der Trauung hatte sie ihn aufgesteckt und dabei ein Gelübde geflüstert, das nur für seine Ohren bestimmt war. »Mehr als gestern, weniger als morgen.« Damit war die Liebe zwischen ihnen gemeint.
    Jetzt stand er mitten unter nackten Männern. Manche legten eine fransenbesetzte Weste ab – Sandy erklärte, dass sie auf religiösen Befehl getragen wurden: eine Erinnerung an Gott, selbst unter dem Hemd –, andere legten sie wieder an, sodass die Nässe der noch nicht getrockneten Haut sie unverzüglich durchdrang, und einige murmelten Gebete in einer Sprache, die Will nicht verstand. Was für eine seltsame Welt, dachte er, dass die Liebe zu Beth mich in diesem Augenblick an diesen Ort bringen kann.
    »Kommen Sie?« Sandy deutete auf das Becken. Wenn er das Vertrauen dieses Mannes gewinnen wollte, musste Will Respekt zeigen und das erforderliche Ritual mit ihm vollziehen.
    »Sofort«, sagte er. Er zog sich aus und streifte auch den Trauring ab. Mit behutsamen Schritten folgte er Sandy, und er dachte dabei an seine Schulzeit und den Gang zur Gemeinschaftsdusche nach einem winterlichen Rugbytraining. Das hier hatte große Ähnlichkeit damit – bis hin zu den schwärzlichen Wasserpfützen und den vereinzelten Schamhaaren auf dem weißen Fliesenboden.
    Die Mikwe selbst sah aus wie ein kleines Tauchbecken, und man tauchte tatsächlich darin ein. Die Stufen hinunter, ein, zwei Schritte weiter – und dann ließ man sich vollständig unter Wasser sinken, sodass kein Haar auf dem Kopf trocken blieb. Das tat man noch zweimal, und dann stieg man wieder hinaus. Die Temperatur war angenehm, aber niemand blieb länger im Wasser. Es war kein Badevergnügen, kein Whirlpool: Sie waren hier, um sich zu reinigen.
    Als Will sich mit angehaltenem Atem unter die Oberfläche sinken ließ, erfüllte ihn plötzlich Zorn. Nicht auf die Männer hier, nicht einmal auf Beths Entführer, sondern auf sich selbst. Seine Frau war verschwunden, vielleicht in großer Gefahr – und er plantschte hier splitternackt herum. Er war nicht da, wo er sein sollte, auf einem Revier des New York Police Department, umgeben von flimmernden Computerterminals, vor denen Kidnapping-Spezialisten saßen, die allesamt rund um die Uhr arbeiteten und Telefonate verfolgten und mit Hilfe allerneuester Entschlüsselungstechniken E-Mails decodierten, bis ein Officer sich schließlich umdrehte und verkündete: »Ich hab ihn!«, worauf alles in die Mannschaftswagen stürmte und zwei Hubschrauber starteten und ein Sondereinsatzkommando mit Scharfschützen die Verbrecherhöhle umzingelte und schließlich die zitternde, aber unversehrte Beth in eine Wolldecke gehüllt herausführte, gefolgt von dem Entführer in Handschellen oder – besser noch – in einem Leichensack. Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er mit angehaltenem Atem in dem Regenwasser hockte, das seinen Körper reinigen sollte. Ich hab zu viele Filme gesehen, dachte er, als er auftauchte, tief durchatmete und das Wasser aus den Haaren schüttelte. Aber das Gefühl in seinem Innersten verging nicht. Er sollte auf der Suche nach Beth sein, und stattdessen badete er hier mit dem Feind.
    Während er sich abtrocknete und wieder anzog, sah er die Männer ringsherum unwillkürlich mit anderen Augen. Welche finsteren Geheimnisse verbargen sie vor ihm? Waren sie schuld- und ahnungslos, oder waren sie alle an der Entführung seiner Frau beteiligt? Handelte es sich um eine Verschwörung, die beim Rebbe anfing und sie alle einschloss? Er sah Sandy an, der mit Haarklammern herumnestelte und sich

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