Die Gerechten
Erschöpfung in den Knochen. Trotzdem wollte er noch höher hinaufsteigen; es gab noch mehr Leute, die er sehen musste.
Irgendwelches Geld floss reichlich, das konnte er überall sehen. Plötzlich war die Straße hier asphaltiert; es roch noch nach frischem Teer. Kinder drängten sich vor einem Fernseher, den er durch den offenen Eingang einer Hütte flimmern sehen konnte. Luis lächelte. Entweder hatten seine Proteste bei den Behörden gefruchtet oder jemand hatte die Elektrizitätsgesellschaft bestochen, damit diese Reihe Hütten an das städtische Stromnetz angeschlossen wurde. Vielleicht waren es auch ein paar Leute gewesen, die sich zusammengetan und einen Cowboy-Elektriker aufgetrieben hatten, der die Sache für ein paar Reais erledigt hatte.
Jorge war hin und her gerissen, ein vertrautes Gefühl. Natürlich sollte er die Achtung vor dem Gesetz predigen und Diebstahl verdammen. Aber halb bewunderte er diese Outlaws, diese Unternehmer der Favelas, die taten, was sie konnten, um ihrer Community zu helfen. Er bewunderte ihre Entschlossenheit, für ein Stück Straße oder für die Einrichtung eines Klassenzimmers zu sorgen.
Welcher Priester ermahnte Leute, die so gut wie nichts besaßen, das Wenige zu verschmähen, das ihnen das Leben erträglich machte?
Gern hätte er sich ausgeruht, aber das würde er nicht tun. Schon bei der kleinsten Pause bekam Luis ein schlechtes Gewissen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, wenn er aufwachte: Wie viel hätte er arbeiten können, wenn er nicht geschlafen hätte? Er hatte ein schlechtes Gewissen, wenn er aß: Wie vielen Leuten hätte er helfen können in der halben Stunde, die er damit verbrachte, sich vollzustopfen? Und in der Favela Santa Marta gab es niemals Mangel an Leuten, die Hilfe benötigten. Die Armut hier war unaufhaltsam, unersättlich – wie die Brandung an einem Strand. Und Luis Tavares fühlte sich wie einst König Knut, der am Ufer stand und gegen das Meer wütete.
Er stieg weiter, auf dem Weg zu dem Rundblick, der ihn auch jetzt, nach all den Jahren, wieder überwältigen würde. Von dem Aussichtspunkt konnte er das Meer und die Stadt unter ihm ausgebreitet betrachten. An Abenden wie diesem genoss er den glitzernden Lichterteppich, das Funkeln anderer Favelas in der Ferne. Aber das Beste war natürlich das Bild, das Rio de Janeiro weltberühmt gemacht hatte: die in der Nähe aufragende Christusstatue, die die Stadt, das Land und, wie Luis glaubte, die ganze Welt bewachte. Während er aufstieg, fiel ihm zum hundertsten Mal auf, dass die Häuser mit zunehmender Höhe immer elender wurden. Am Fuße des Berges sahen sie noch aus wie Häuser. Sie waren solide gebaut, sie hatten Wände, ein Dach und Glas in den Fenstern, manche sogar fließendes Wasser, Telefon, eine Satellitenschüssel auf dem Dach. Aber wenn man den Hang hinaufstieg, wurde dieser Anblick seltener. Die Behausungen, an denen er jetzt vorbeikam, konnte man kaum noch als Unterstände bezeichnen, irgendwie zusammengehämmert, vielleicht eine Wand aus rostigem Stahl und ein Dach aus Wellplastik. Die Tür war ein Spalt, das Fenster ein Loch. So drängten sie sich aneinander und stützten sich gegenseitig wie ein großes Kartenhaus. Es war der größte Slum von Rio, unweit des wohlhabenden Strandviertels, und es war jammervoll.
Er war seit siebenundzwanzig Jahren hier – seit er das Theologiestudium absolviert hatte. Jeder Baptist sollte zu Beginn seiner Priesterlaufbahn brennende Armut kennen lernen, aber nicht alle waren so sehr davon gebannt wie er. Die »Lektion lernen« und weitergehen – das wollte er nicht. Er wollte bleiben und gegen die Armut kämpfen, auch wenn es ein ungleicher Kampf war. Er wusste, dass Armut dieses Ausmaßes wie Unkraut im Garten war: Was man heute ausrupfte, war morgen wieder da.
Dennoch weigerte er sich, das, was er hier getan hatte, als vergeblich zu betrachten. In diesen engen, stinkenden Straßen lebten mehr als zehntausend Menschen, und jeder davon hatte eine Seele, die nach dem Bild Gottes geschaffen war. Wenn nur ein einziger eine Mahlzeit bekam, die er sonst nicht bekommen hätte, wenn einer, und sei es nur für eine einzige Nacht, unter einem Dach statt auf der Straße schlief, dann war Luis’ ganzes Lebenswerk gerechtfertigt. So jedenfalls sah er die Sache.
Es frustrierte ihn, dass er heute Abend nicht mit dieser Arbeit beschäftigt war: mit unmittelbarer und buchstäblicher Fürsorge – ein Teller Suppe für eine hungrige Frau, eine Decke für ein
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