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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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frierendes Kind –, die in jedem Augenblick etwas veränderte. Nein, heute Abend hatte er Material für einen Bericht zu sammeln, um den ihn eine Regierungsbehörde gebeten hatte.
    Dass sie einen solchen Bericht überhaupt haben wollten, musste schon als Erfolg gelten, als Resultat seiner neunmonatigen Lobbyarbeit. Die Behörden, auf staatlicher wie auf kommunaler Ebene, hatten Orte wie Santa Marta schon vor Jahren abgeschrieben. Sie suchten sie nicht mehr auf, sie sorgten dort nicht mehr für Ordnung. Es waren Tabuzonen, in denen der Staat nichts mehr galt. Wer dort etwas haben wollte – ein Krankenhaus etwa oder einen Platz, an dem Kinder Fußball spielen konnten –, musste es entweder selbst beschaffen, oder er musste den Behörden auf die Nerven gehen, bis sie sich schließlich darum kümmerten.
    Und hier kam Luis ins Spiel. Er war Santa Martas Advokat geworden, der diese Woche bei den Behörden und nächste Woche bei irgendeiner internationalen Hilfsorganisation vorstellig wurde und verlangte, dass etwas für die Menschen in der Favela getan wurde – für die Kids, die zwischen stinkenden Abwässerrinnen groß wurden und auf den nahen Müllkippen nach Essbarem stöberten. Sein bevorzugtes Mittel war die Beschämung: Er forderte die Leute auf, sich Lagoa anzusehen, das Viertel jenseits des Hügels, das sich stolz als einer der reichsten Bezirke von Lateinamerika bezeichnete. Und dann zeigte er ihnen ein Kind aus Santa Marta, das in einer Woche weniger zu essen bekam, als ein Chihuahua-Schoßhündchen in Lagoa an einem Tag verknabberte.
    Heute Abend sammelte er Aussagen, Zeugnisse. Er wollte mit Bewohnern der schlimmsten Teile der Favela sprechen, und sie sollten ihm erklären, warum sie eine Klinik brauchten, was diese Klinik leisten und wo sie stehen musste. Diese Informationen würde er im Rahmen seines Berichts an die Behörden weitergeben. In letzter Zeit benutzte er dabei sogar eine Videokamera, sodass die Menschen der Favela für sich selbst sprechen konnten.
    Jetzt hatte er seine erste Adresse erreicht; das wusste er, auch wenn es hier keine Hausnummern gab. Er trat ein und sah zu seiner Überraschung mehrere unbekannte Gesichter, lauter junge Männer. Vielleicht war Dona Zezinha nicht zu Hause.
    »Soll ich warten?«, fragte er einen der Anwesenden. Aber er bekam keine Antwort. »Wohnst du hier?«, fragte er einen anderen, einen wolfsgesichtigen Jungen, der seinem Blick nervös auswich. »Was ist hier los?«
    Statt auf die Frage des Priesters zu antworten, zog der Junge eine Pistole. Luis’ erster Gedanke war, dass die Waffe irgendwie komisch aussah: Sie war viel zu groß für die Hand des Jungen. Aber dann richtete sich die Waffe auf ihn. Und bevor er begriffen hatte, dass er jetzt sterben würde, hatte die Kugel sein Herz zerrissen.
    Luis Tavares starb mit einem Gesichtsausdruck, der mehr Überraschung als Entsetzen zeigte. Eher waren es seine Mörder, die verängstigt aussahen. Eilig verhüllten sie die Leiche mit einer Decke, ganz wie man es ihnen gesagt hatte. Dann rannten sie panisch durch die Gassen zu dem Mann, der ihnen den Auftrag zu dieser Tat gegeben hatte. Hastig und mit fiebrigem Blick nahmen sie ihr Geld in Empfang. Sie hörten nicht zu, als er ihnen dankte, und verstanden nichts, als er sie lobte, weil sie das Werk des Herrn verrichtet hatten.

19
    FREITAG, 22.05 UHR, CROWN HEIGHTS, BROOKLYN
    »Ich sehe, wir haben beide einen Fehler begangen. Ihr Fehler war es, mich zu belügen, und zwar hartnäckig zu belügen, selbst unter enormem Druck. Angesichts der Umstände verstehe ich es jetzt, ja, ich finde es sogar bewundernswert.«
    Wills Herz klopfte so laut, dass er kaum etwas verstand. Er hatte Angst, mehr Angst als vor wenigen Augenblicken da draußen. Der Rebbe hatte die Wahrheit herausgefunden. Irgendetwas in seiner Brieftasche hatte ihn verraten – zweifellos irgendein Kreditkartenbeleg oder eine längst vergessene Kundenkarte aus der Videothek. Der Himmel wusste, welche Qualen ihn jetzt erwarteten.
    »Sie sind hier, weil Sie Ihre Frau suchen.«
    »Ja.« Er hörte die Erschöpfung in seiner Stimme. Und die Angst.
    »Das verstehe ich, und ich hoffe, ich würde in Ihrer Lage das Gleiche tun. Ich bin sicher, Mosche Menachem und Zvi Jehuda stimmen mir zu.« Jetzt hatten beide Gorillas einen Namen. »Es ist die Pflicht eines jeden Mannes, für seine Frau zu sorgen und sie zu beschützen. Das ist der Kern des Ehegelübdes.
    Aber leider können die üblichen Regeln in diesem Fall nicht

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