Die Gerechten
als erwarte der Rebbe eine Reaktion von Will. Aber Will war zu keiner Reaktion imstande; er rang immer noch laut und heftig nach Atem.
»Ich weiß nicht, ob Sie mit einer unserer bekanntesten Lehren vertraut sind, Mr. Mitchell. ›Wer ein einzelnes Leben rettet, der rettet die ganze Welt.‹ Wirklich die ganze Welt. So wichtig ist Haschem jedes einzelne Leben. In jedem einzelnen Menschen verbirgt sich die ganze Welt, denn wir alle sind nach Gottes Ebenbild erschaffen. Darum sagt man, das Leben sei unantastbar. Heute ist das eine Phrase. Die Menschen sagen es, ohne nachzudenken. Aber was bedeuten diese Worte wirklich?« Die Stimme nahm einen musikalischen Klang an, wie er ihn in der Synagoge gehört hatte – eine Art Singsang, ein rhythmisches Auf und Ab, Antwort und Frage in einem einzigen Monolog. »Sie bedeuten, dass das Leben heilig ist, weil es Teil des Göttlichen ist. Wer ein menschliches Wesen tötet, tötet eine Erscheinung des Allmächtigen. Darum ist es uns verboten, zu töten. Es sei denn, die Umstände wären außergewöhnlich.«
Will spürte, wie die Kälte noch tiefer unter seine Haut kroch.
»Selbstverteidigung ist ein nahe liegendes Beispiel, aber nicht das einzige. Wissen Sie, das Judentum hat ein wunderbares Konzept namens pikuach nefesh. Damit ist die Errettung einer Seele gemeint. Es gibt keine heiligere Pflicht als pikuach nefesh-. Fast alles ist erlaubt, wenn es darum geht, eine Seele zu retten. Rabbiner werden oft gefragt: ›Darf ein Jude jemals Schweinefleisch essen?‹ Die Antwort ist: Ja! Natürlich darf er das! Wenn er auf einer einsamen Insel gestrandet ist und nur überleben kann, wenn er ein Schwein schlachtet und isst, dann darf ein Jude es nicht nur, er muss es sogar! Er muss. Es ist ein göttliches Gebot: Er muss sein Leben retten. Pikuach nefesh.
Aber nehmen wir einen schwierigeren Fall.« Der Mann sprach, als säßen sie in einem Tutorium am Balliol College, als sei er der Tutor und Will der Student. Die Tatsache, dass Will vor ihm kniete, die Hände auf dem Rücken, durchnässt und durchfroren, schien ihn nicht zu beeindrucken.
»Wäre es uns erlaubt zu töten, wenn dies ein Leben retten könnte? Nein. Die Regeln des pikuach nefesh verbieten Mord, Götzendienst und sexuelle Unzucht selbst, um dadurch Leben zu retten. Wenn uns jemand befiehlt, einen Mord zu begehen, um die eigene Haut zu retten, so dürfen wir das nicht tun. Aber sagen wir, ein Mörder ist unterwegs, um eine unschuldige Familie zu ermorden. Wir wissen, wenn wir ihn töten, werden wir das Leben der Familie retten. Ist es erlaubt, in dieser Situation zu töten?
Aber vergrößern wir das Dilemma. Was ist, wenn der Mann, von dem wir sprechen, gar kein Mörder ist, wenn aber trotzdem unschuldige Menschen auf diese oder jene Weise sterben werden, wenn er am Leben bleibt? Was sollen wir dann tun? Dürfen wir einem solchen Mann ein Haar krümmen? Dürfen wir ihn töten? Ja, denn ein solcher Mann ist, was wir einen rodef nennen. Wenn es keinen anderen Ausweg gibt, darf man ihn töten.
Solche Fragen diskutieren unsere Weisen in großer Ausführlichkeit. Manchmal scheint es, als seien unsere talmudischen Debatten detailbesessen: Wie viele Ellen darf die Breite eines Herdes betragen? Solche Fragen. Aber der Kern unserer Studien besteht in dem, was Sie als ethisches Dilemma bezeichnen. Und über dieses spezielle Dilemma habe ich eingehend nachgedacht. Ich bin zu einem Schluss gekommen, und ich glaube, um fair zu sein, sollte ich Ihnen diesen Schluss offenbaren. Ich glaube, es ist erlaubt, einem Menschen Schmerz zuzufügen und ihn sogar zu töten, der selbst vielleicht kein Mörder ist – dessen Schmerzen oder Tod aber Menschenleben retten wird. Ich glaube, anders sind unsere Quellen nicht zu verstehen. Es ist das, was sie uns sagen.
Um zur Sache zu kommen, Mr. Mitchell: Wenn ich zu dem Schluss komme, dass Sie letztlich ein rodef sind und ich anderer Leute Leben rette, indem ich Ihres beende, würde ich keinen Augenblick zögern, es zu tun. Vielleicht brauchen Sie einen Augenblick Zeit, um darüber nachzudenken.«
Eine halbe Sekunde später, als habe der Rebbe erneut das Zeichen dazu gegeben, wurde Will wieder unter Wasser gedrückt. Die durchdringende Kälte war ein Schock wie jedes Mal. Will zählte die Sekunden, um durchzuhalten. Die letzten Male hatten sie ihn nach fünfzehn Sekunden wieder aufgerichtet. Jetzt zählte er sechzehn, siebzehn, achtzehn.
Er spannte die Schultern an, um seinen Peinigern zu verstehen
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