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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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studieren. Über die hintere Wand erstreckte sich eine Werkbank mit Malutensilien – Flaschen mit Verdünner, Ölfarben in zerdrückten, metallenen Tuben, Leim, Messer, diverse verrostete Schaber, Schnur – und unerklärlicherweise ein Kochbuch, in dem alle Seiten zu fehlen schienen.
    Und hinten, auf einer verschlissenen roten Samtcouch, saß TC. Sie sah kleiner aus, als er sie in Erinnerung hatte, aber alles andere war wie früher: Sie war noch immer eine Frau, die man anstarrte. Statt der alten Punkfrisur trug sie das Haar jetzt lang. Die Haarfarbe war ein natürliches Braun, aber eine blaue Strähne, ihr Markenzeichen, war noch da. Und Will konnte nicht übersehen, dass sie noch immer eine gute Figur hatte. Unter der dünnen, beinahe altertümlichen Bluse über den engen, an den Knien zerrissenen Jeans sah er den Körper, der ihn einst völlig hingerissen hatte. Im Halbdunkel blinkte etwas Metallenes: Der Nabelring war auch noch da.
    Dies war der Augenblick, der ihn am meisten verunsichert hatte: Sollte er sie in den Arm nehmen, sie auf die Wange küssen, ihr die Hand geben – oder gar nichts tun? Gab es eine Geste, die unmissverständlich platonisch war und trotzdem Wärme vermittelte? Er konnte sich nicht erlauben, TC auf irgendeine Weise zu verärgern, und erst recht durfte er keine alten Wunden aufreißen.
    Sie nahm ihm die Entscheidung ab: Sie stand auf und breitete die Arme aus, als begrüße sie den verlorenen Sohn. Er umarmte sie und versuchte die Umarmung durch die Art, wie er Arme und Hände einsetzte, irgendwie brüderlich wirken zu lassen. Das war es: TC sollte ihn wie einen Bruder sehen, wie einen Verwandten, den sie in der Stunde der Not nicht abweisen durfte.
    Sie sehe gut aus, sagte er, aber wieder machte TC es ihm leicht; sie umging jeden Smalltalk und vermied damit alle emotionalen Sprengsätze, die sich darin verbergen könnten.
    »Was hast du für ein Problem, Will?«
    Er erzählte ihr alles, so knapp und methodisch wie möglich: Wie Tom die Herkunft der E-Mail aufgespürt hatte, wie er nach Crown Heights gefahren war, wie er dort verhört und in der Mikwe beinahe ertränkt worden war.
    »Das muss ein Scherz sein«, sagte sie, als er das letzte Detail vorgetragen hatte, und in ihrem halben Lächeln lag entweder Ungläubigkeit, nervöse Anspannung oder Schadenfreude – oder eine Kombination von allen dreien. Aber das Lächeln verschwand, als sie Wills Gesicht sah: Sie begriff, dass es tödlicher Ernst war.
    »Will, es tut mir Leid für dich und vor allem für Beths Familie.« Beth. Noch nie hatte er diesen Namen aus TCs Mund gehört. »Aber was genau willst du von mir?«
    »Ich will wissen, was du darüber weißt. Du musst mir erklären, was ich da gehört habe. Du musst es … ich weiß nicht, du musst es mir übersetzen.«
    Ein kleines, betrübtes Lächeln ließ sie plötzlich älter aussehen. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass Altern im Grunde nur wenig mit Falten und Runzeln zu tun hatte, auch wenn das eine Rolle spielte. Aber in Wahrheit zeigten sich die Jahre in einem Gesichtsausdruck, wie er ihn gerade gesehen hatte. Das Gesicht des Alters und des Wissens.
    »Okay. Du musst mir alles erzählen, sehr langsam und mit allen Einzelheiten, an die du dich erinnern kannst. Erzähl mir von jeder Straße, durch die du gegangen bist, von jedem Menschen, dem du begegnet bist, von jedem Wort, das sie gesagt haben. Ich mache uns Kaffee.«
    Will ließ sich in den Korbsessel sinken, den sie ihm hinschob. Zum ersten Mal seit sechzehn Stunden entspannten sich seine Muskeln. Er war erleichtert: TC war auf seiner Seite. Ein Gefühl stieg in ihm auf, das er nie empfunden hatte, als sie noch zusammen waren: er wusste, sie würde sich um ihn kümmern.
    Sie war, das erkannte er rasch, eine geschickte Interviewerin – geduldig und methodisch. Immer wieder verlangte sie Präzision, immer wieder fragte sie nach, um sicherzugehen, dass er nichts ausgelassen hatte. Und sie wies ihn auf Widersprüche hin, ganz nach ihrer alten analytischen Art. »Moment, du hast gesagt, außer dir waren nur zwei Leute in diesem Raum. Wer ist jetzt dieser Dritte? Was hat er genau gesagt? Hat er gesagt: ›Ich werde‹ oder ›Ich könnte‹?«
    Ihre Präzision war anstrengend. Zur Erholung ließ er den Blick über ihre Arbeiten wandern, die überall im Raum verteilt waren. Großformatige Bilder mit klassisch amerikanischen Themen – naturalistische Gemälde von gelben Taxis und alten Imbisswagen –, und sosehr er ihre

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