Die Gerechten
was du unter Wasser gehört hast und was wir aus dem Internet holen können. Das ist nicht genug.«
Das leuchtete Will ein. Es stimmte: Er hatte sich auf typisch englische Weise durchgeblufft. Das lernte man in den besten Internaten: Lektionen im Verarschen. Du musst lernen, mit deinem angeborenen Witz und Charme durchzukommen. Sei niemals etwas so Langweiliges wie ein qualifizierter Experte. Sei ein begabter Amateur. Und so war er in seinen blöden Chinos und mit seinem blöden Notizbuch nach Crown Heights marschiert. Als würde ihm einfach alles in seinen charmanten englischen Schoß fallen.
Sie brauchten Hilfe.
»Und an wen hast du gedacht?«
»Wie wär’s mit Joel?«
»Joel Kaufman?« Kaufman war mit Will im Journalismus-Seminar an der Columbia gewesen und schrieb jetzt für den Sportteil des Newsday. »Der ist Jude, aber nur auf dem Papier. Er weiß kaum mehr als ich darüber.«
»Ethan Greenberg?«
»Ist in Hongkong. Für das Journal.«
»Das ist lächerlich. Wir sind in New York. Wir müssen doch Juden kennen!«
»Tatsächlich kenne ich eine Menge Juden«, sagte Will; er dachte plötzlich an Schwarz und Woodstein, die mit ihm zusammen im Büro saßen, und das wiederum erinnerte ihn daran, dass er sich den ganzen Tag über nicht in der Redaktion gemeldet hatte. Hardens E-Mail hatte er ignoriert. Er würde etwas tun müssen – er konnte nicht einfach schwänzen. Aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken; er schob den Gedanken beiseite und nahm sich vor, sich darum zu kümmern, wenn er von Tom wegginge.
»Das Problem ist, ich kann nicht einfach mit irgendjemandem über diese Situation plaudern. Das Risiko ist zu hoch. Es muss jemand sein, der nicht nur Jude ist, sondern sich auch auskennt. Er muss etwas von diesen jüdischen Dingen verstehen und etwas über diese Welt wissen.« Er deutete auf den Monitor, auf dem immer noch die Stadtkarte mit dem Eastern Parkway zu sehen war. »Und jemand, dem wir vertrauen können. Mir fällt niemand ein, der da in Frage käme.«
»Mir schon«, sagte Tom, aber er sah dabei nicht glücklich aus.
»Wer?«
»TC.«
»Das ist nicht dein Ernst. TC soll uns helfen, Beth zu retten?«
»Wer kann es sonst, Will? Wer sonst?«
Will ließ sich auf die Couch zurückfallen und biss die Zähne zusammen; seine Wangenmuskeln zuckten, als ständen sie unter Strom. Tom hatte wieder mal Recht. TC erfüllte sämtliche Bedingungen. Sie war Jüdin, sie kannte sich aus, und sie würde niemals ein Geheimnis ausplaudern. Aber wie konnte er sie anrufen? Sie hatten seit über vier Jahren nicht miteinander gesprochen.
Ungefähr neun Monate lang, von seinem Eintritt in die Columbia University bis zu jenem Memorial Day, waren sie unzertrennlich gewesen. Sie war Kunststudentin gewesen, und Will hatte sich in sie verliebt, bevor sie auch nur ein Wort miteinander gesprochen hatten.
Er konnte es nicht bestreiten: Er hatte sie begehrt. Sie war die Frau auf dem Campus gewesen, die jedermann bemerkte: den Diamantpin in ihrem Nasenflügel und den Piercing-Ring an ihrem Bauchnabel, den flachen, immer entblößten Bauch und den blauen Schimmer ihres Haars. Die wenigsten Frauen über sechzehn konnten sich diesen Look leisten, aber TC besaß genug natürliche Schönheit, um damit umwerfend auszusehen.
Sie waren schon bald miteinander ausgegangen und führten fast so etwas wie ein Einsiedlerleben in seinem winzigen Apartment in der 113th, Ecke Amsterdam Avenue. Sie schliefen am helllichten Tag miteinander, ließen sich chinesisches Essen bringen, sahen fern und liebten sich erneut bis in den frühen Morgen.
Der Schein trog. Die Leute sahen die blauen Haare und den Nabelring und hielten TC für einen wilden, freien Geist – eins der Mädchen im Film, die im Mondschein auf dem Dach tanzten oder spontan an den Strand fuhren, um die Fischerboote zu sehen. Aber trotz ihrer Piercings und der zerrissenen Jeans war TC nicht so. Unter dem punkigen Äußeren entdeckte Will bald einen präzisen, analytischen Verstand, der in seinem Verlangen nach Genauigkeit manchmal Furcht erregend war. Eine Unterhaltung mit TC war ein mentaler Workout: Sie ließ Will nichts durchgehen.
Sie schien wirklich alles gelesen und absorbiert zu haben – sie zitierte Turgenjew, und im nächsten Augenblick hatte sie die zentralen Leitsätze der lutherischen Doktrin bei der Hand. Die einzige Schwachstelle in ihrer Rüstung war gegen alle Erwartung die populäre Kultur. In den neuesten Entwicklungen fand sie sich gerade noch
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