Die Gerechten
zurecht, aber wenn es um Kindheitserinnerungen ging, die sie und Will eigentlich hätten gemeinsam haben müssen, war sie komplett ahnungslos. Erwähnte er »Grease«, dachte sie an Brei, und wenn er von »Valley Girls« sprach, wusste sie nicht, in welchem Tal diese Girls lebten. Will fand es liebenswert, und außerdem war es beruhigend zu wissen, dass die menschliche Datenbank, mit der er seine Zeit verbrachte, wenigstens einen Defekt aufwies. Er vermutete, dass diese beiden Phänomene miteinander zusammenhingen: Während er wie alle anderen Kinder alberne Fernsehsendungen gesehen und trashige Popmusik gehört hatte, hatte TC gelesen, gelesen, gelesen.
Aber das war eine Vermutung. TC sprach nur andeutungsweise von ihrer Kindheit (sogar ihr Name war ein Geheimnis, ein Spitzname, den sie als kleines Mädchen bekommen hatte und dessen Bedeutung vergessen war). Ihre Eltern und Geschwister hatte er niemals kennen gelernt. Das kam nicht in Frage: Trotz ihres aggressiv areligiösen Lebens (sie bestellte ausdrücklich immer nur Jumbo-Shrimps und Schweinefleisch süß-sauer) erklärte sie knapp, ihre Familie lebe immer noch ziemlich traditionell und werde einen nichtjüdischen Freund unter keinen Umständen akzeptieren. »Aber wir wollen doch nicht heiraten!«, sagte er dann. »Egal«, antwortete sie. »Schon die theoretische Möglichkeit, dass wir es eines Tages tun könnten, ist schlimm genug für sie. Schon, dass wir überhaupt zusammen sind.«
Sie argumentierten hin und her. Er bezichtigte ihre Eltern – von denen er nicht einmal ein Foto kannte – eines Rassismus, der nicht besser sei als der eines Antisemiten, der seiner Tochter verbot, mit einem Juden auszugehen. Sie führte ihn geduldig durch die lange, blutige Geschichte der Juden; kundig wie immer erzählte sie ihm, wie sie auf allen Kontinenten jahrhundertelang gequält worden waren und ihr Leben und die Kultur, die sie geschaffen hatten, mit Mühe und Not erhalten hatten. Die jüdische Kultur, glaubten Menschen wie ihre Eltern, könne nicht überleben, wenn sie sich durch Mischehen und Assimilation in der allgemeinen Bevölkerung auflöste – so, wie ein Tropfen blaue Haarfarbe im Ozean verschwand. »Das glauben deine Eltern«, sagte Will. »Und was glaubst du?«
Ihre Antwort war nie klar genug, jedenfalls nicht für Will. Die Diskussionen ermüdeten ihn, und während die Illegitimität ihrer Romanze zunächst eine kribbelnde Erfahrung gewesen war und sie im Winter von Manhattan zu Verschwörern gemacht hatte, verblasste der Reiz, als der Frühling kam. Es gefiel ihm nicht, dass ihr Schicksal von einer gewaltigen äußeren Macht bestimmt wurde – von einer fünftausendjährigen Geschichte –, über die er so wenig wusste und auf die er keinen Einfluss hatte. Zu dem Zeitpunkt, als er Beth kennen lernte, wusste er bereits, dass er und TC keine Zukunft mehr hatten.
Das Ende war übel. Er war feige gewesen und hatte angefangen, sich mit Beth zu treffen, bevor er mit TC Schluss machte. Sie hatte ein Digitalfoto seiner neuen Freundin auf seinem Computer gefunden. Das war schlimm genug, aber wirklich wütend war sie darüber, dass das, was sie inzwischen »dieses Juden-Ding« nannten, sich als ein so entscheidendes Problem erwies. Sie war wütend auf ihn, weil er zuließ, dass es ein Hindernis war – dass er sie ablehnte »wegen einer Tatsache über mich, an der ich nichts ändern kann«, wie sie es ausdrückte –, aber er hatte immer das Gefühl, dass ihre Wut sich nicht nur gegen ihn richtete. Er sah, dass sie wütend auf ein Erbe war, auf eine Kultur, die sie fast vollständig aufgegeben hatte und die sie trotzdem von einem Mann trennte, den sie liebte. Bei ihrem letzten Gespräch schrien sie einander nur noch an, und das letzte Bild, das er von ihr im Gedächtnis behalten hatte, war ein Gesicht, das wund war von Tränen. Wenn er jetzt an TC dachte, reichte es lediglich für die Platitüde, sie habe »eine Menge Probleme zu lösen« gehabt. Und gelegentlich fragte er sich, wer wohl die Oberhand behalten hatte: die strengen Eltern oder die blau gesträhnte Welt von Kunst und Abenteuer, die das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, so sehr fasziniert hatte.
Und jetzt schlug Tom vor, er solle mit ihr Kontakt aufnehmen. Heute. Jetzt. Kurz vor Mitternacht. Er hatte ihre Handynummer; die hatte sich bestimmt nicht geändert. Aber was sollte er sagen? Wie konnte er ihr erklären, dass er sich nur bei ihr meldete, weil er etwas brauchte – noch dazu um der
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