Die Gerechten
technischen Fertigkeiten bewunderte, fragte er sich doch plötzlich, ob TC sich nicht den falschen Beruf ausgesucht hatte. Sie hatte einen viel zu klaren Verstand, dachte zu geradlinig und logisch, um als Künstlerin zu arbeiten. Mit diesem Kopf sollte sie eher Wissenschaftlerin oder Juristin sein – oder, angesichts der jetzigen Situation, Polizistin? Mit dieser neuen Erkenntnis hielt er sich aber klugerweise, wie er fand, erst mal zurück.
Als er fertig war, merkte er, dass TC ihm bisher überhaupt noch nichts erklärt hatte. Wenn sie etwas gesagt hatte, dann nur, um Präzision zu fordern oder ergänzende Nachfragen zu stellen. Er wusste immer noch nicht mehr als vorher, und allmählich wurde er ungeduldig. Aber er wagte nicht, seine Frustration zu äußern, und außerdem war er zu erschöpft. Seine Zunge wurde schwer.
Er wachte auf, weil sein Ellenbogen von der Armlehne rutschte. Der Geschmack in seinem Mund verriet ihm, dass er kurz, aber tief geschlafen hatte. Er hatte von Gesängen und Tänzen geträumt, und von Beth in der Mitte, wie eine Stammeskönigin umgeben von Männern in weißen Hemden und schwarzen Anzügen.
Er sah auf die Uhr: halb drei. Es war also kein Albtraum, sondern ein schrecklich langer Tag und eine Nacht, die nicht enden wollte. Es hatte angefangen, als er achtzehn Stunden zuvor seinen Blackberry eingeschaltet hatte. Und jetzt saß er halb schlafend in TCs Korbsessel, und es war immer noch nicht zu Ende.
»Hey, da bist du ja wieder.« Sie blickte von einem Skizzenblock auf, der auf ihren Knien lag. Ihr Stirnrunzeln verriet ihm, dass sie sich angestrengt konzentriert hatte.
»Wir haben Folgendes: Erstens: Sie sagen, dass Beth nicht in Gefahr ist, solange du dich zurückhältst. Zweitens: Anscheinend geben sie zu, dass sie nichts Unrechtes getan hat, ja, dass sie vielleicht überhaupt nichts getan hat, aber sie können sie trotzdem nicht gehen lassen. Sie räumen ein, dass das unverständlich erscheint, aber sie versprechen, dass alles klar werden wird. Wir wissen, dass sie kein Geld von dir haben wollen. Sie wollen nur, dass du weggehst.
Alles in allem ist das eine sehr merkwürdige Entführung. Es ist, als wollten sie sie auf unbestimmte Zeit und aus unbestimmten Gründen ausborgen – und sie erwarten, dass du es hinnimmst. Wir müssen herausfinden, warum.« Dieses wir empfand Will als beruhigend, auch wenn der Rest des Rätsels – und die Tatsache, dass TC es nicht auf der Stelle gelöst hatte – alles andere als beruhigend war.
»Welche Motive könnten sie haben? Ein Hinweis ist sicher der Umstand, dass sie befürchteten, du könntest vom FBI sein. Eine wohlwollende Erklärung wäre, dass sie Angst haben, das FBI könnte wegen der Entführung gegen sie ermitteln. Weniger erfreulich wäre, dass es mit der Entführung nichts zu tun hat, sondern dass sie in irgendwelche anderen kriminellen Aktivitäten verwickelt sind und schon länger befürchten, dass die Polizei ihnen auf den Fersen ist. Ein bisschen so wie diese durchgeknallten Sekten, die nur darauf warten, dass das FBI eines Tages aufkreuzt und ihnen ihre Waffen wegnimmt.« Will musste an Montana denken, an Pat Baxter und seine Kameraden. Mein Gott, das war erst ein paar Tage her, aber ihm kam es vor wie Jahre.
»Aber das haben sie ausgeschlossen, aus ziemlich vernünftigen, nachvollziehbaren Gründen. Zu einem versteckten Sender fällt mir nichts ein, aber ich schätze, sie haben Recht mit der Annahme, dass man einen Juden als Undercover-Agenten zu ihnen schicken könnte: Das FBI würde so verfahren. Aber dass du kein Agent bist, beruhigt sie nicht – im Gegenteil. Erst als sie es ausgeschlossen hatten, kamen sie wirklich zur Sache und hätten dich beinahe ertränkt. Auch das leuchtet irgendwie ein: Sie hätten nicht gewagt, dich zu misshandeln, wenn du ein FBI-Mann gewesen wärst. Als sie wussten, dass du keiner bist, verloren sie ihre Hemmungen. Die Frage ist, warum? Was könnte, um ihre Formulierung zu benutzen, unendlich viel schlimmer‹ sein? Eine rivalisierende Chassiden-Sekte? Ein rivalisierendes Kidnapper-Kartell?«
Will sah ein boshaftes Funkeln in ihren Augen, als finde sie die Vorstellung, Chassiden könnten etwas Böses im Schilde führen, erheiternd. Es ärgerte ihn, und noch immer hatte sie nichts geliefert, was er nicht schon wusste.
»Was ist mit all diesen jüdischen Details, die ich gehört habe? Was hat das alles zu bedeuten?«
»Der Satz, den du als ›Peking nie-fesch‹ verstanden hast, lautet
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