Die Gerechten
richtig: pikuach nefesh. Das Beschützen einer Seele. Es wird meist im positiven Sinne benutzt, um Verstöße gegen religiöse Vorschriften zu einem guten Zweck zu rechtfertigen. Weißt du, die Israelis sagen pikuach nefesh, um zu begründen, warum Krankenwagen auch am Sabbat fahren dürfen. Aber diese Leute haben es mit all diesem Kram über einen rodef als Drohung verwendet: Sie wollten implizieren, dass das jüdische Recht ihnen erlauben könnte, dich zu töten. Oder Beth.« Will zuckte zusammen.
»Schabbat so-und-so – das gibt es auch. Was du gehört hast, war Schabbat tschuvah, der Bußsabbath, der wichtigste Sabbat des Jahres. Der ist zufällig heute. Es ist der Sabbat zwischen Rosch Haschana, dem Neujahrsfest, und Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung. Wir sind mitten in den zehn Tagen der Buße, den Tagen der Ehrfurcht. Das ist eine wichtige Zeit für Juden, besonders für die ultraorthodoxen. Aber was hat der Mann, der dich verhört hat, damit gemeint, als er sagte: ›Wir haben nur vier Tage Zeit‹? Es stimmt, es sind noch vier Tage bis Jom Kippur, aber nach dem, was du erzählt hast, sprach er eher von einer Art Deadline. Er kann nicht gemeint haben, dass sie nur noch vier Tage Zeit zum Büßen haben, auch wenn das so ist. Es muss etwas mit der größeren Sache zu tun haben, von der er gesprochen hat, als er sagte: ›Alles steht auf dem Spiel, der Einsatz könnte nicht höher sein‹, und als er von der ›uralten Geschichte‹ redete.«
»Wir haben also nicht die leiseste Ahnung, was diese Geschichte angeht, nicht wahr?« TC schaute mit gesenktem Kopf auf ihren Skizzenblock. Er sah ihr an, dass sie verzweifelt nach dem Schlüssel zu diesem Geheimnis suchte. Sie hatte die Fakten organisiert, so gut sie konnte, und sie hatte einen Katalog von Fragen. Aber das war alles, was sie hatte: Fragen.
»Nein«, sagte sie leise. »Wir haben keine Ahnung.«
»Was ist mit dem Rebbe?«
»Ach ja. Darüber musst du noch einmal angestrengt nachdenken. Hat er dir je seinen Namen genannt? Hat er sich vorgestellt?«
»Ich sage doch, ich durfte nicht mal sein Gesicht sehen.«
»Und warum bist du dann so sicher, dass es der Rebbe war?«
»Weil sie in der Synagoge alle gesungen und getanzt und auf ihn gewartet haben. Und dann wurde ich abgeführt. Diese Gorillas sagten, sie könnten nicht mit mir sprechen, bevor ihr ›Lehrer‹ da wäre. Und als er da war, haben sie getan, was er sagte. Er war offenkundig der Boss.«
»Als du in der Synagoge warst und die Hand auf der Schulter spürtest und die Stimme sagte: ›Für Sie, mein Freund, ist es hier zu Ende‹ – war das dieselbe Stimme, die dich später verhört hat?«
»Ja.«
»Aber wenn das der Rebbe war, warum haben die Leute dann nicht in seine Richtung geschaut, sondern woanders hin? Wenn er es gewesen wäre, wäre doch jedes Gesicht im Raum dir zugewandt gewesen, hätte wie rasend den Mann angestarrt, der hinter dir stand, so nah, dass er dir ins Ohr flüstern konnte. Aber das war nicht so, oder?«
»Vielleicht konnten sie ihn in dem Gedränge nicht sehen.«
»Ich bitte dich, Will. Du hast selbst gesagt, sie verehren den Mann, als sei er der Messias. Den lassen sie doch nicht einfach durch das Gedränge spazieren und erdrücken. Überleg genau: Hat er sich je selbst als den Rebbe bezeichnet?«
Verlegen erkannte Will, dass sein Peiniger nichts dergleichen gesagt hatte.
»Hast du ihn als Rebbe angeredet?«
TC hatte seine Gedanken gelesen. Die ganze qualvolle Zeit über hatte Will angenommen, er spreche mit dem Rebbe. Aber hatte er diese Anrede je benutzt? Nein.
»Du bist also sicher, dass der Mann, der mich heute Abend beinahe hätte umbringen lassen, nicht der Rebbe war?«
»Ich weiß es sogar.«
»Woher? Wie kannst du so sicher sein?«
»Ich bin so sicher, Will, weil der Rebbe von Crown Heights seit zwei Jahren tot und begraben ist.«
21
SAMSTAG, 6.36 UHR, MANHATTAN
Sie waren in einem erstickend heißen Land, in einem breiten Bett, über dem ein riesiges weißes Netz hing. Das Zimmer schien in irgendeinem alten Hotel aus der Kolonialzeit zu sein. Es war Nachmittag und sie liebten sich mit fiebriger Intensität, ihre Körper glitschig vom Schweiß. Besonders Beth war so nass …
Wills Herz schlug heftig. Er blickte auf ein Bett, das eng war – und leer. Und es war noch nicht mal ein richtiges Bett. Er war in TCs Atelier auf dem roten Samtsofa eingeschlafen. Sie hatte, wie sich herausstellte, ein schmales Feldbett hinter einer Trennwand am Rande des
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